Religion wird nie böswillig entstellt

«Veränderung durch Verzicht» – das war der Titel eines Vortags in 2015, als ich bei der Muslimischen Hochschulgruppe Osnabrück aktiv war. Wir haben damals ein umweltfreundliches Fastenbrechen organisiert, bei dem wir auf Plastik verzichtet haben. Für das Essen haben wir kompostierbare Teller und die legendären Göffel verwendet. Ein Göffel ist, wie es der Name andeutet, Gabel und Löffel in einem. Nachdem wir uns bei den Stadtwerken vergewissert haben, dass das Leitungswasser an der Universität trinkbar ist, haben wir etliche Glasflaschen aufgefüllt, um auf Plastikfalschen zu verzichten.

Warum ich davon berichte? In diesem Beitrag möchte ich auf einige problematische Punkte aufmerksam machen, die sich mit dem neuen Trend des umweltfreundlichen Fastenbrechens (Ifṭār) anfangen zu verbreiten. Mit der Ausführung über unsere Versuche vor 7 Jahren möchte ich sicherstellen, dass man mir nicht vorwirft, keine Sensibilität gegenüber dieser Thematik zu haben. Wir haben mit diesen Themen begonnen, bevor der Trend um sich gegriffen hat. In 2015 hätten wir uns gefreut, wenn es Projekte wie heute gegeben hätte. Der Beitrag zielt also nicht darauf ab, die Bemühungen zu kritisieren oder gering zu schätzen.
Doch für Menschen, die sich dem Lernen und Lehren der Religion verschreiben, ist es verpflichtend, falschen Vorstellungen und Entwicklungen entgegenzuwirken. Man macht sich damit nicht beliebt, aber um Beliebtheit geht es nicht. In einer Überlieferung heißt es:

Gewiss, die Religion (al-Dīn) begann befremdlich und wird wieder befremdlich werden. Das Paradies gehört den Befremdlichen! Sie sind diejenigen, die meine Sunna wiederherstellen, nachdem die Menschen sie verdorben haben.

Sunan al-Tirmidhī, Bd. 2, S. 251, Hadith Nr. 2831

An dieser Überlieferung wird deutlich, dass die Sunna des Gesandten ﷺ verändert und verdorben wird. Man könnte dementsprechend die Muslime in drei Kategorien einteilen: Experten, die die Sunna von den Quellen ableiten und diese praktizieren. Die Allgemeinheit, die versucht, sich an diese Sunna zu halten. Menschen, die diese Sunna durch eigene Interpretationen entstellen. Das Mindeste, was man erstreben sollte, ist es nicht zur dritten Kategorie zu gehören. Denn keiner entstellt die Religion oder Sunna bewusst und mit böser Absicht. In diesem Zusammenhang wird es vor allem dann problematisch, wenn sich Trends verbreiten und unbemerkt falsche Vorstellungen Fuß fassen. In solchen Situationen wird es ungemütlich darüber zu sprechen, weil sich Personen oder Organisationen angegriffen fühlen können. Doch es geht nicht darum irgendjemanden zu attackieren oder bloßzustellen. Vielmehr geht es darum nüchtern und sachlich falsche Aussagen und Inhalte anzusprechen bevor diese sich verbreiten. Nicht mehr nicht weniger.
Ziel dieses Beitrags ist es also vorzubeugen, dass die Absicht etwas Gutes zu tun dazu führt, religiöse Inhalte und Praktiken negativ zu beeinflussen. Im Folgenden wird ein konkretes Beispiel genannt. Vorher muss aber noch auf ein Problem bei der Kommunikation von Gedanken allgemein aufmerksam gemacht werden. 

Probleme bei der Kommunikation

Es ist zu beobachten, wie vor allem Studenten der Theologie Gedanken vermitteln, die inhaltlich ganz deutlich etwas suggerieren. Die Sprecher hingegen behaupten: «Das sind nur Gedanken.» Oder «Ich spreche nicht normativ.» Kurzgesagt, man spricht normativ oder suggeriert es, sagt aber an einer anderen Stelle man meint es nicht normativ. Diese unklare Art der Kommunikation sorgt für mehr Verwirrung als Klarheit. Es hilft auch nicht immer nur auf Meinungsverschiedenheit zu verweisen, vor allem wenn es diese gar nicht gibt.

Für einige mag die kommende Ausführung kleinlich wirken und der Beitrag auf dem sich bezogen wird nicht problematisch sein. Beides stelle ich in Frage, denn, wie man so schön sagt, der Teufel steckt im Detail. Große Probleme entstehen nicht plötzlich, sondern ganz allmählich ohne, dass man es merkt. Jeder, der ein bestimmtes Alter erreicht und genug Lebenserfahrung gesammelt hat, kann an ein Beispiel denken, in dem ein sehr großes Problem im Leben mit einer sehr kleinen Sache angefangen hat. Genauso verhält es sich mit negativen Einflüssen und Vorstellungen auf die Religion. Sie sind am gravierendsten, wenn sie sich unbemerkt einschleichen und allmählich größer werden.
Wenn jemand plötzlich gewaltige Aussagen über den Islam trifft, wie man müsse nicht fasten oder das Gebet sei nicht verpflichtend, dann erkennt jeder Muslim, egal ob praktizierend oder nicht die Falschheit dieser Aussage. Wenn es aber um Gedanken geht, die subtiler sind, interessant klingen und augenscheinlich nicht die Grundlagen der Religion berühren, dann ist man eher dazu geneigt, diese anzunehmen. Das ist der erste Schritt für die größeren Probleme. Oftmals sind sich die Sprecher dieser Ideen nicht darüber bewusst und öffnen die Türen und Tore für langfristige und gravierende Konsequenzen.

Es geht hier darum aufzuzeigen, dass man die Ebenen zwischen religiöser Praxis und persönlicher Lebensführung nicht vermischen darf. Als Muslim ist jeder frei in seinem Konsumverhalten. Man kann Veganer sein oder nicht, man kann das Fasten mit Datteln brechen oder nicht.  Das Problem fängt an, wenn man behauptet, dass die eigene Vorstellung die prophetische Sunna wäre. Was die Sunna des Gesandten ﷺ anbelangt, so ist es die Aufgabe der Experten (Gelehrte) des Faches dieses herauszuarbeiten. Auch wenn es hier nicht um das Erlaubte und Verbotene (ḥalāl und ḥarām) geht, sollte man sich immer ins Gedächtnis rufen, dass die Einhaltung der Sunna des Gesandten ﷺ der Weg zu höheren spirituellen Stufen ist. Darum sollte man sich davor hüten, leichtfertig mit ihr umzugehen. Genau hier setzt die Kritik dieses Beitrags an. Es geht also nicht nur um das folgende partikulare Beispiel, sondern um das allgemeine Problem die eigene Lebensführung oder den eigenen Aktivismus zum Teil der Religion zu machen.

Kommen wir nun zu dem Beispiel. Es werden erstmal mehrere Auszüge nacheinander erwähnt und im Anschluss die Problematik bei der Argumentation behandelt.

Ausgangspunkt der Kritik

In dem Beitrag «Datteln – religiöse Früchte?» auf der Instagram Seite von koranisch.martin werden u. a. folgende Aussagen getroffen, nachdem einige Gelehrte zitiert worden sind:

«Die religiöse Befolgung des Propheten erfolgt demnach insbesondere dadurch, dass man in erster Linie konsumiert, was in der eigenen Region erzeugt wird. (…)
Häufig ging es bei prophetischen Handlungen nicht um die Betonung bestimmter Gegenstände oder Utensilien, sondern um die Wirkung dieser. 
Datteln waren also aus Sicht der islamischen Quellen nicht dafür bestimmt ein „globaler Exportschlager“ zu werden, der von allen Muslimen weltweit konsumiert werden „muss”, um dem Vorbild des Propheten zu folgen.»

«Welche regionale Alternative zu Datteln lässt sich z. B. Hierzulande für das Fastenbrechen vorfinden? Äpfel. (…) Gemäß prophetischem Vorbild kann man hierzulande sein Fasten z. B. mit einem Apfelstück statt einer Dattel brechen.»

Als Disclaimer heißt es:
«Und eins ist ebenfalls wichtig: Es geht in diesem Post nicht darum den Dattelkonsum zu verbieten oder jemandes Kultur zu schmälern. Auch nicht darum einen Absolutheitsanspruch zu verkünden. Man kann zu diesem Thema auch eine andere Meinung einnehmen.»

In einem Livestream trifft der Autor des Beitrags folgende Aussagen:
«Es ist mehr an der prophetischen Lebensweise, wenn ich hier mein Fasten mit etwas regionales breche, z. B. mit einem Apfel anstatt dass eine Dattel importieren muss.» [1]https://www.instagram.com/tv/Cb-4qk7gGSW/ [Minute 21:15]

«Ich meine, dass wenn man manchmal dem Propheten folgen will, man in manchen Handlungen von ihm abweichen muss. Gerade bei Datteln. Ich will der prophetischen Lebensweise folgen, wenn ich ihm aber wirklich folgen will, esse ich das, was regional bei mir vorhanden ist. Und oberflächlich gesehen habe ich da eine Abweichung, weil ich esse dann am Ende keine Dattel, aber im Kern folge ich ihm ja trotzdem. Das ist eigentlich der Kernpunkt der prophetischen Lebensweise. Das ist die Dattel nur ein Beispiel.» [2]ebd. Minute 21:55

Die Hauptthese des Beitrags und des Interviews lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die prophetische Lebensweise (Sunna) besteht nicht darin bestimmte Nahrungsmittel zu sich zunehmen und bestimmter Konsumgüter zu verwenden, sondern das zurückzugreifen, was regional vorhanden ist.

Da unsere heutige Zeit von einer emotionalen Haltung gegenüber jeder Kritik geprägt ist, sei nochmal betont: Es geht weder darum den Autor zu verunglimpfen noch die persönlichen Entscheidungen zu bewerten. Der Beitrag und das Interview dienen als partikulares Beispiel, um auf ein allgemeineres Problem aufmerksam zumachen, welches darin besteht die eigene Lebensführung und Entscheidungen mit der prophetischen Sunna gleichzusetzen oder die Sunna anders zu definieren. Es bringt dann auch nichts im Nachsatz oder Disclaimer zu sagen, man beanspruche keine Absolutheit. Sobald man anfängt darüber zu sprechen, was die Sunna ist und was nicht, hat man ein normatives Urteil gefällt.

Untersuchung der Aussagen

Kommen wir zum Inhalt: Grundsätzlich werden mehrere Ebenen im Beitrag und im Interview vermischt. 

  1. Handlungen, die als Sunna eingestuft werden. 
  2. Das Problem der globalen Marktwirtschaft und was man als Individuum dagegen tun kann.
  3. Inhalte, die in den Werken zu der «prophetischen Medizin» (Ṭibb al-nabawī) erwähnt werden.

Bei der folgenden Aussage sieht man wie die erste und zweite Ebene vermischt werden:

«Häufig ging es bei prophetischen Handlungen nicht um die Betonung bestimmter Gegenstände oder Utensilien, sondern um die Wirkung dieser.
Datteln waren also aus Sicht der islamischen Quellen nicht dafür bestimmt ein „globaler Exportschlager“ zu werden, der von allen Muslimen weltweit konsumiert werden „muss”, um dem Vorbild des Propheten zu folgen.»

Erst einmal ist der Begriff «islamischen Quellen» nicht gutgewählt, weil man überhaupt nicht weiß, was gemeint ist. Außerdem werden diese Quellen mit dem globalen Export in Verbindung gebracht, insofern der Konsum der Muslime basierend auf diese Quellen zum Problem des globalen Massenexports beitragen. Es gibt genug Bereiche, in denen man Verzicht üben kann, um auf persönlicher Ebene etwas gegen den Massenkonsum zutun. Ausgerechnet bei einer Sunna Handlung ansetzen, ist nicht sehr weitsichtig.

Offensichtlich sagt kein Gelehrter, dass man Datteln konsumieren oder das Fasten damit brechen muss. Doch wenn man dem Vorbild des Gesandten ﷺ folgen und seine Sunna einhalten möchte, um Allah näher zu kommen, dann folgt man den Taten und Worten des Gesandten ﷺ, egal wie «kleinlich» das auch wirken mag. Übrigens liegt in dem Auslassen der kleinen alltäglichen Handlungen, mit der Begründung «es ist ja nur eine Sunna», ein großes Problem bei Muslimen. Unter anderem erklärt dieser Ansatz warum viele sich innerlich leer fühlen, obwohl sie die Verpflichtungen einhalten. Zurück zum Thema.

Überlieferungen & Kommentare über die Sunna der Dattel

Der Gesandte ﷺ sagt in einer Überlieferung: 

«Wenn einer von euch sein Fasten bricht, dann soll er es mit trockenen Datteln (tamr) brechen, denn darin liegt Segen (baraka). Wenn er keine findet, dann soll er es mit Wasser brechen, denn es ist reinigend.»


Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 2, S. 197-198.

In einer weiteren Überlieferung heißt es von dem Prophetengefährten Anas – möge Allah mit ihm zufrieden sein: 

«Der Gesandte Allahs ﷺ pflegte sein Fasten vor dem Beten mit einigen frischen Datteln (ruṭabāt) zu brechen. Wenn es keine frischen Datteln waren dann mit einigen kleinen trockenen Datteln (tumayrāt). Wenn es keine kleinen trockenen Datteln waren, dann nahm er kleinere Schluck Wasser.»


Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 4, S. 404

Um zu zeigen, wie Experten mit dieser Thematik umgehen, soll der Kommentar aus einem bekanntem Werk erwähnt werden:

«Aus der Überlieferung wurde entnommen, dass die Sunna selbst mit einer [Dattel] eingehalten wird. Doch die nächste Überlieferung deutet darauf, dass es drei sind. (…)
Aus ihr [d. h. der Überlieferung] haben unsere Gelehrten entnommen, dass es von der Sunna ist das Fasten mit drei frischen Datteln zu brechen, wenn sie kaum zu finden sind dann drei trockene Datteln und wenn sie auch schwer zu finden sind dann drei Handmengen von Wasser, egal ob im Sommer oder im Winter. (…) Was hinsichtlich der Anzahl von drei und der Reihenfolge erwähnt worden ist, so ist das in Bezug auf die Vollkommenheit der Sunna. Wenn das aber nicht möglich ist, dann erlangt man sie [d. h. Sunna] mit einer und dem Voranstellen [von Wasser], das später erwähnt wurde [in der Überlieferung].»[3]Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 4, S. 403-404.

Den letzten Satz erläutert folgende Aussage, die der Autor an einer anderen Stelle erwähnt:
«Wenn man mit Wasser das Fasten bricht obwohl Datteln vorhanden sind, ist die eigentliche Sunna, mit dem Wasser das Fasten zu brechen, erreicht.»[4]Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 2, S. 198.

Nachdem der Gelehrte die religiös-normative Ebene behandelt und erläutert, was die Sunna ist, erwähnt er die Weisheit (al-ḥikma) warum das Fasten mit einer Dattel oder Wasser gebrochen werden soll und was die Ärzte zu seiner Zeit sagten.

«{Darin} d. h. der Dattel {liegt Segen} aufgrund dessen, was an Schutz für das Augenlicht vorhanden ist, [die Dattel] zusammenführt was durch das Fasten aufgeteilt wurde und dass wenn sie [die Dattel] den Magen erreicht und auf Überreste von Essen trifft sie diese ausscheiden lässt. Oder sie ist nahrhaft [für den Körper wenn sich kein Essen im Magen befindet].
Die Aussage der Ärzte: „Sie [d. h. Datteln] schwächen das Augenlicht“ wird für das Übermaß von ihr verstanden und nicht bei der kleinen Menge. (…)
{Denn es [d. h. Wasser] ist reinigend} d. h. Es beseitigt materielle und spirituelle Unreinheiten.»[5]ebd. (Die geschweiften Klammern sind die Worte aus der Überlieferung)

An diesem kurzen Kommentar sieht man, wie ein Experte die verschiedenen Ebenen der Normativität, Spiritualität und Medizin ganz klar voneinander unterscheidet. Es ist deutlich, dass der Kommentator das Fastenbrechen mit drei Datteln als Sunna einordnet.

Kritik der Belege #01

Wie verhält es sich aber mit den Belegen, die in dem Beitrag erwähnt worden sind?
Zwei davon stammen aus der Literaturgattung der Prophetenmedizin (Ṭibb al-nabawī). Diese besprechen nicht normativ, was die Sunna ist oder nicht. Wenn es also heißt, dass «der Mensch am besten die Nahrung verträgt, die in seiner Region erzeugt wird.», dann ist das keine normative Aussage, d. h. ob eine Handlung als Sunna einstufen werden kann oder nicht. Vielmehr müssen diese Aussagen aus der Perspektive der damaligen Humoralpathologie verstanden werden. Ein kurzer Blick in dem zitierten Werk zeigt, dass die Grundannahmen der Viersäftelehre von den muslimischen Gelehrten übernommen worden sind und sie Menschen und Nahrungsmittel danach einteilten. Ihre Annahme ist, dass wenn eine Person aus einer bestimmten Region stammt, sie die regionalen Nahrungsmittel aufgrund der körperlichen Beschaffenheit und der Beschaffenheit der Lebensmittel besser verträgt, weil diese miteinander im Einklang sind. All das hat weder was mit der Sunna zutun noch mit dem Aufruf, regionale Lebensmittel aufgrund von ethischen Gründen zu konsumieren. 

Der Vorschlag zum Fastenbrechen Äpfel zu essen, könnte also wenn überhaupt als medizinisch eingestuft werden. Nach der Viersäftelehre würde das auch nur für Menschen aus dieser Region liegen, die physiologisch mit dieser Region verbunden sind. Plump ausgedrückt: Waschechte Deutsche Menschen.
Offensichtlich geht es aber dem Autor des Instagram-Beitrags nicht darum. Vielmehr geht es ihm um ethische Prinzipien, die dabei helfen sollen, die Umwelt zu schützen. Vermeidlich religiöse Texte (Bücher zur Prophetenmedizin behandeln keine normative Inhalte) dienen dann nur noch dazu, diese Prinzipien zu untermauern. Darum werden im Beitrag völlig verschiedene Ebenen miteinander vermischt, um krampfhaft zu argumentieren, dass es bei der Sunna darum geht, auf regionale Produkte zurückzugreifen.

Kritik der Belege #02

Ein weiterer Beleg stammt aus einem Werk über Anstandsregeln (ādāb) und wird folgendermaßen zusammengefasst: «Islamische Gelehrte bestätigen, dass die Prophetengefährten außerhalb der arabischen Halbinsel nicht mehr die Lebensmittel Medinas konsumierten, sondern sich an die regionalen Bedingungen orientierten.»[6]Die Quelle wurde im Beitrag angegeben aber ich habe die Aussage in dem genannten Buch nicht finden können. Das wiederum sagt ebenfalls nichts darüber aus, was eine Sunna ist oder nicht. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass die Prophetengefährten ihr Fasten mit Wasser brachen, wenn sie keine Datteln hatten, wie es in der obigen Überlieferung erwähnt wird. Hier werden wieder vermeidliche «Belege» für die eigene Position herangeführt. 

Kritik der Belege #03

Was die Aussage in Bezug auf die Überlieferung «Ein Haushalt ohne Dattel hungert» anbelangt, so sieht man im Gesamtkontext vom Kommentar zur Überlieferung, worum es eigentlich geht.

«{Die Familie hungert in einem Haus, in dem es keine Datteln gibt.} Damit meint der Gesandte nur Medina und wer im selben Zustand ist insofern deren Hauptnahrungsmittel Datteln sind.
Wenn ein Haushalt keine Nahrungsmittel hat, die hauptsächlich dort vorhanden sind, so haben sie erst recht nichts von dem, was nicht hauptsächlich vorhanden ist, und so hungert die Familie, weil sie nichts [zum Essen] finden. Diese Aussage trifft auf alle Länder zu, in denen es nur eine Art [von Nahrungsmittel gibt] oder das Hauptnahrungsmittel eine bestimmte Art ist. So sagt man über ein Land, in dem es nur Weizen gibt: Die Familie hungert in einem Haus, in dem es keinen Weizen gibt.
Der Hinweis [in der Überlieferung] bezieht sich auf den Nutzen, Nahrungsmittel anzuschaffen und diese aufzubewahren, weil es in der Regel dazu führt, das Herz zu beruhigen und sich von Sorgen zu befreien.» [7]Abū al-ʿAbbās al-Qurṭubī: al-Mufhim, Bd 5, 320.

Der letzte Satz versucht die Intention in der Überlieferung darzulegen. Es geht um die Vorsorge bei der Versorgung des eigenen Haushalts. Man sieht hier wieder, dass die Behauptung, sich regional zu ernähren Teil der Sunna wäre weder von der Überlieferung noch vom Kommentar gestützt wird. Vielmehr spricht das Werk, aus dem diese Aussage stammt gegen diese Behauptung, denn blättert man eine Seite weiter, sieht man, wie der Gelehrte al-Qurṭubī über die medizinischen Vorzüge der ʿAjwa Datteln aus Medina und ihren Nutzen nicht auf die Bewohner dieser Stadt begrenzt. Auch er untersucht ebenfalls die medizinische Ebene unabhängig von der Frage, ob es sich um eine Sunna handelt oder nicht.

«Darauf folgt [die Frage]: Ist [die Eigenschaft der ʿAjwa-Dattel aus Medina] an die Zeit gebunden, als er ﷺ darüber sprach oder gilt sie zu jeder Zeit? Alle Optionen sind wahrscheinlich und was diese Wahrscheinlichkeit auflöst, ist die wiederholte Erprobung. Wenn wir herausfinden, dass er [der Nutzen] auch in unserer Zeit eintrifft, dann wissen wir, dass es eine spezifische anhaltende Eigenschaft [der Dattel] ist. Wenn wir es durch mehrfaches Erproben nicht herausfinden, dann wissen wir, dass sich um ein Spezifikum der damaligen Zeit der Aussage handelte. Allah weiß es am besten.»[8]Abū al-ʿAbbās al-Qurṭubī: al-Mufhim, Bd 5, 322.

Wieder erkennt man die klare Unterscheidung zwischen den verschiedenen Ebenen.

Zusammenfassung

Es ist ein Zeichen der Barmherzigkeit, dass Allah Nahrungsmittel und Utensilien, die Teil der prophetischen Sunna sind, auf der gesamten Welt verfügbar gemacht hat. Wenn man sich selbst dieser Barmherzigkeit verwehren möchte, dann ist das eine individuelle Entscheidung. Man soll aber nicht anfangen Gelehrten das eigene Verständnis in den Mund zu legen und die Sunna nach eigenem Verständnis basierend auf persönlichen-ethischen Prinzipien anders zu definieren. Das heißt nicht, dass Muslime nicht über dieser Themen sprechen sollten. Dass wir uns mehr mit unserem Konsumverhalten auseinandersetzen, ist eine sehr positive und wünschenswerte Entwicklung. Doch wir müssen uns davor hüten, übereifrig zu werden und unseren Aktivismus nicht zur Grundlage zu machen, durch die wir religiöse Inhalte interpretieren. Der Maßstab unserer Handlungen muss die Scharia bleiben und diese definieren nicht Laien, sondern Experten. Darum ist es vor allem für Aktivisten wichtig, sich erst mal religiös zu bilden, bevor sie versuchen, die Welt zu verändern. Denn ehe man sich versieht, hat man nicht die Welt, sondern die Religion verändert.

Quellen

Quellen
1 https://www.instagram.com/tv/Cb-4qk7gGSW/ [Minute 21:15]
2 ebd. Minute 21:55
3 Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 4, S. 403-404.
4 Ibn ʿAllān: Dalīl al-Fāliḥīn li ṭuruq riyāḍ al-ṣāliḥīn, Bd. 2, S. 198.
5 ebd.
6 Die Quelle wurde im Beitrag angegeben aber ich habe die Aussage in dem genannten Buch nicht finden können.
7 Abū al-ʿAbbās al-Qurṭubī: al-Mufhim, Bd 5, 320.
8 Abū al-ʿAbbās al-Qurṭubī: al-Mufhim, Bd 5, 322.

Verfasst von:

Navid Chizari

Doktorand in Islamic Studies (Ibn Haldun University, Istanbul)
Gründer von Rooted Thought

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