Ein Gastbeitrag von _diayou (Instagram)
Möchtest du die Konvertierungsgeschichte einer geborenen Muslima lesen? Ja richtig, die Konvertierungsgeschichte einer geborenen Muslima. Denn auch wir Muslime müssen manchmal konvertieren, um zu unserer Religion zu finden und den Kern unserer Religion zu verstehen.
Hat Er dich nicht als Waise gefunden und dir dann Zuflucht verschafft und dich irregehend gefunden und dann rechtgeleitet und dich arm gefunden und dann reich gemacht?
Koran (93:6-8)
Die Sure «Die Morgenhelle» (93). Womöglich die Sure, die mein bisheriges Leben am besten beschreibt. Denn bis vor anderthalb oder zwei Jahren war ich verloren. So verloren, dass ich mir dessen nicht mal bewusst war.
Vor ca. 22 Jahren durfte ich in einer Kleinstadt der Türkei die Welt erblicken. Meine Familie ist eine traditionell-türkische Familie, die mehr oder weniger religiös ist. Nachdem mein Vater, der schon etwas länger in Deutschland gelebt hatte, meine Mutter und mich zu ihm holte, begann meine kleine Reise. Meine Reise als kleines muslimisches Mädchen, das trotz der äußeren Einflüsse des Liberalismus, des Atheismus, des Christentums versuchte, an seiner Religion und Tradition festzuhalten. Bisher hatten hauptsächlich meine Geschwister mir meine Religion näher gebracht, indem sie mir über die Eigenschaften Allahs berichteten, Geschichten über unseren Propheten ﷺ erzählten, mir Bücher vorlasen, mir zeigten wie man fastet, betet, die Gebetswaschung (wuḍū) vollzieht etc. Aber sie waren nicht mehr da. Denn meine Mutter und ich ließen meine beiden älteren Geschwister in der Türkei zurück. Weder meine Mutter noch mein Vater waren in der Lage, mir islamisches Wissen zu vermitteln, da sie das Wissen leider nicht hatten oder zumindest nicht so viel, dass ein kleines neugieriges Mädchen Antworten bekam, die es seiner Religion näherbrachten. Ich möchte hier an dieser Stelle meine Eltern für nichts beschuldigen. Sie haben ihr Bestes gegeben. Immerhin hat meine Mutter mir schon als Kleinkind bestimmte Suren beigebracht und mich auch eine Zeit lang in die Moschee gebracht, damit ich den Koran lesen lernen konnte. Damals war das aus Zwang, aber heute bin ich ihr mehr als dankbar dafür. Ja, es war die falsche Methode. Richtiger wäre es, mir als Kind die Moschee und das Lernen der arabischen Buchstaben so attraktiv zu machen, dass ich freiwillig hingehen möchte, weil es mir Spaß macht. Aber ich bin ihr dennoch dankbar. Nachdem ich arabisch Lesen gelernt hatte und einigermaßen den Koran lesen konnte, war es das auch mit der Moschee. Danach habe ich jahrelang kaum die Moschee besucht, höchstens an mawlid oder im Ramadan für das Tarawih-Gebet, aber dann auch nur, weil meine Mutter mich dazu gezwungen hat. Heute wünschte ich, dass sie mich öfter dazu gezwungen hätte. Ich wünschte, sie hätte mehr darauf bestanden, dass ich in die Moschee gehe, als dass sie darauf bestand, dass ich meine Hausaufgabe mache und gut in der Schule bin.
Bis 17 Jahren habe ich mir keinerlei Mühe gegeben, mir islamisches Wissen anzueignen. Ich habe weder gebetet noch den Hijab getragen. Mit 17 Jahren bin ich durch Freundinnen auf einen türkischen YouTube Kanal gestoßen, in dem junge Menschen über islamische Themen reden, basierend auf klassischen islamischen Texten. Aber so, dass auch junge Menschen wie ich, die keine Ahnung vom Islam hatten, das nachvollziehen können und dem gerne zuhören. Auch diesen Menschen bin ich sehr dankbar. Denn mit Allahs Erlaubnis und ihrem Einfluss habe ich angefangen, Hijab zu tragen. Ich hatte sogar angefangen, regelmäßig zu beten. Zumindest habe ich dies versucht. Durch die Schule habe ich aber viele Gebete verpasst. Das war meine damalige Ausrede. Da das ständige Nachbeten mir auf Dauer zu anstrengend wurde, habe ich irgendwann aufgehört zu beten. Wenn ich mir damals nur bewusst wäre, wie enorm wichtig das Gebet ist… nicht nur für meine Seele, sondern auch für den Schutz meines Imans, für meine Identität, für mein Herz, für meine gesamte Existenz. Ich frage mich manchmal, was wäre passiert, wenn ich damals an meinem Gebet festgehalten und mich weiterhin mit meiner Religion beschäftigt hätte? Ob ich dann trotzdem vom richtigen Weg abgekommen wäre? Denn auch wenn ich angefangen hatte, Hijab zu tragen, war mein Iman nicht wirklich stark. Das kleine muslimische Mädchen, das versucht hatte, in der liberalistischen, atheistischen und christlichen Welt an seiner Religion festzuhalten, hatte versagt. Der Liberalismus hatte mich schon längst um den Finger gewickelt, aber damals hatte ich leider keine Ahnung. «Hallo? Ich hatte angefangen Hijab zu tragen! Das ist doch ein großer Schritt. Manche Schwestern tragen gar keinen Hijab, ich bin doch eine gute Muslima!» Nein war ich nicht. Ganz und gar nicht. Ich habe teilweise Positionen vertreten, die islamrechtlich überhaupt nicht vertretbar wären, ich habe mich als «Feministin» gesehen und habe Frauen teilweise verurteilt, wenn sie lieber zuhause bleiben wollten, statt zu arbeiten. Wenn mir Fragen zu meiner Religion gestellt wurden, habe ich versucht, Dinge schön zu reden, statt die Tatsachen so zu schildern, wie sie sind. Mir war es teilweise unangenehm, über meine Religion zu reden oder zuzugeben, dass der Islam die einzig wahre Religion für mich ist, weil ich nicht das Klischee unterstützen wollte, dass Muslime von ihrer Religion «besessen» sind.
Die nächsten Jahre bin ich immer weiter in die giftigen Schlingen des Liberalismus geraten und weiter vom Weg abgekommen. Der Gedanke, tawba zu machen, kam mir nicht in den Sinn. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht, wie man tawba macht. Ich kannte meinen Schöpfer ja nicht mal. Ich wusste nicht, dass Er der Barmherzige, Vergebende und Reue Annehmende ist. Ich hatte schon lange aufgehört, die islamischen Videos auf YouTube zu schauen.
Mit 20 habe ich dann einen der größten Fehler meines Lebens begangen. Dieser Fehler hat dazu geführt, dass ich mit Anfang 21 den größten Schmerz meines bisherigen Lebens erlebt habe. Ich übertreibe nicht. Mein Herz, meine Seele, mein ganzer Körper hat so geschmerzt, dass ich tagelang nicht schlafen konnte, eine ganze Woche lang kaum etwas gegessen habe. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Menschen verstanden, die sich das Leben nehmen. Wenn das Herz so wehtut und du nichts anderes tun kannst, als diesen Schmerz zu ertragen, dann willst du alles tun, damit dieser Schmerz einfach aufhört.
In der ersten Nacht, in der ich diesen Schmerz schmecken durfte, habe ich nach langer Zeit wieder zu Allah gesprochen. Ich habe mir weinend aus tiefstem Herzen gewünscht, dass er mir in dieser Nacht das Leben nimmt, damit dieser Schmerz aufhört. Dieses Bittgebet wurde nicht erhört, denn Er kennt uns besser als wir uns selbst, weil Er unser Schöpfer ist. Er weiß besser, was gut und was schlecht für uns ist. Im Koran heißt es:
Und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader
Koran (50:16)
In dieser schmerzvollen Zeit habe ich versucht mich abzulenken. Dann bin ich mit Allahs Hilfe «zufällig» auf Instagram auf einen Vers gestoßen, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Denn die ganze Zeit, in der ich mit diesen grauenhaften Schmerzen kämpfen musste, habe ich gedacht, dass mich keiner wirklich versteht und auch nicht verstehen kann. Selbst als ich mit jemandem darüber gesprochen habe. Innerlich wusste ich immer, dass diese Menschen den Schmerz niemals vollkommen nachvollziehen können. Deshalb habe ich mich in dieser Zeit sehr alleingelassen und einsam gefühlt.
Wir wissen ja, daß deine Brust beklommen ist wegen dessen, was sie sagen.
Koran (15:97)
Ich habe diesen Vers mehrmals durchgelesen und er hat mich zum Weinen gebracht. Ja, Allah hat mich, mein Herz und meine Seele erschaffen, natürlich wusste Er am besten, wie es mir geht. In diesem Moment habe ich realisiert, dass ich nicht einsam bin und nie einsam war. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl verstanden zu werden.
Nach einigen Tagen bin ich irgendwie (ich weiß bis heute nicht wie das passiert ist) auf eine türkische Fatwa-Seiten gestoßen, in der jemand fragte, was er tun solle, nachdem er bestimmte Sünden begangen hatte und sich jetzt verloren, schuldig und hilflos fühlte. Die Sünden, die diese Person begangen hatte, waren den meinen ähnlich. Die Antwort war, dass diese Person eine ehrliche tawba machen, Allah inständig um Vergebung bitten und sich selbst und Allah versprechen soll, diese Sünden nie mehr zu tun. Diese Antwort klingt heute für mich logisch, natürlich mache ich tawba, wenn ich eine Sünde begangen habe. Aber zu diesem Zeitpunkt, habe ich das nicht gewusst. Denn oft redet man sich die Sünden schön und versucht, sie aus dem Gewissen zu verdrängen. Wusste ich innerlich, dass meine Taten falsch waren? Ja, tief im Inneren wusste ich das. Aber nachdem Sünden zur Regelmäßigkeit geworden sind, ignoriert man die Stimme im Inneren.
Auch hier konnte ich erstmal nichts mehr tun als da zu sitzen und zu weinen. Danach bin ich aufgestanden, habe nach sehr langer Zeit wieder die Gebetswaschung vollzogen, mich fürs Gebet fertig gemacht und gebetet. Allerdings habe ich sowohl während des Gebets als auch danach nur noch geweint. Ich saß nach dem Gebet mit offenen Händen da und habe nur geweint und Allah angefleht mir zu verzeihen. Das mag jetzt wie ein Film klingen oder unrealistisch, aber genau so war es. Und du kannst gar nicht glauben, wie gut es mir tat. Mein Herz, meine Seele waren so erleichtert danach, als hätte mir jemand 100kg Last abgenommen. Mein Herz hat immer noch geschmerzt, aber jetzt schien es so viel erträglicher zu sein. Ich kam mir sogar richtig dumm vor, deshalb so viel geweint zu haben, statt darüber zu weinen, dass ich so sehr vom Weg abgekommen bin und mich nicht wieder Allah zugewandt habe.
Ich habe mir vorgenommen, danach regelmäßig zu beten und mich mit meiner Religion mehr auseinanderzusetzen. Auch wenn es mir am Anfang schwerfiel, ich habe es durchgezogen und anderthalb Jahre später bete ich immer noch und kann gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich für dieses Geschenk bin. Natürlich habe ich jetzt immer noch einige Schwierigkeiten diesbezüglich und fühle nicht jedes Gebet so sehr wie am Anfang. Aber dennoch bin ich für jedes einzelne Gebet dankbar, dass Allah mir ermöglicht. Allah hat mir eine zweite Chance gegeben, eine zweite Chance, um mich zu bessern, eine bessere Muslima zu werden, noch vor dem Tod. Ich bin zwar immer noch sündhaft, immer noch voller Fehler und wahrscheinlich immer noch keine «gute» Muslima. Also wo ist der Unterschied zu früher? Der Unterschied ist, dass ich jetzt Vertrauen in Allah habe, vertrauen darauf, dass er es besser weiß, weil Er der Allwissende ist. Vertrauen darauf, dass Er mich besser kennt als ich mich und deshalb auch am besten weiß was gut oder schlecht für mich ist. Der Unterschied ist, dass ich mich bemühe, mich zu bessern, um Allah bestmöglich zu dienen. Dass ich regelmäßig tawba mache und versuche, Allah näher zu kommen.
Eine muslimische Bloggerin namens Youlerie auf Instagram sagte einmal:
«Jeder hat seine Konvertierungsgeschichte, auch wenn er als Muslim geboren wurde.»
Das ist meine Konvertierungsgeschichte. Die Geschichte, wie Allah Licht in meine tiefschwarze Nacht gebracht hat. Die Geschichte meiner Morgenhelle, die Geschichte wie Allah mich rechtgeleitet hat, obwohl ich vollkommen verloren war.
Der Dank und Lob gebührt nur Allah.