Islamischer Wissenserwerb in einer kapitalistischen Welt

Es ist kein Geheimnis, dass wir uns in einer kapitalistischen Gesellschaft befinden, mit drastischen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche des Menschen. Das wesentliche Grundprinzip ist die Produktivität. In einem beschleunigten Tempo Leistungen zu erbringen, wird in unserer Gesellschaft sowohl direkt als auch indirekt stetig forciert. Demzufolge steht der Mensch als ‚Humankapital‘ im Sinne der Effizienz und Effektivität unter einem Optimierungsdruck.

Wie hängt das mit dem islamischen Wissenserwerb zusammen?

Beginnend mit einem Zitat aus dem Buch «Das Kriterium des Handelns», möchte ich den Einstieg machen. 

«Wir haben das Wissen für einen anderen Zweck außer für Allah erlernt, das Wissen aber lehnte es ab, für etwas anderes als Allah da zu sein», das heißt, dass das religiöse Wissen sich weigerte und ablehnte, sich aneignen zu lassen.

Abū Ḥāmid al-Ghazālī
Das Kriterium des Handelns, S. 193

Oft genug habe ich im Prozess des islamischen Wissenserwerbes einen wiederkehrenden inneren Druck verspürt, verkrampfte Glieder und zerstreute Aufmerksamkeit als Begleiterscheinung. Zunächst habe ich es als reine Überforderung wahrgenommen, sicherlich geht dieser Aspekt auch mit meinem inneren Zustand einher. Denn die Inhalte bei Rooted Thought, wie die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Werken al-Ghazālī’s und das systematische Denken über die islamischen Wissenschaften, waren zwar das, wonach ich lange gesucht habe, aber dennoch ziemlich abstrakt. 

Aber irgendwann wurde dieser Druck unerträglich. Um die Wurzel, die Ursache meines Zustands zu erfassen, habe ich mir bewusst Zeiten der Ruhe eingeplant. Mit dem Ziel, eine Bestandsaufnahme von mir selbst zu machen und mich im Kontext der Welt zu betrachten. Der erste Schritt war, meine Absicht bezüglich des islamischen Wissenserwerbes ehrlich zu prüfen. Mit dem reinen Zungenbekenntnis, es nur für Allah zu machen, um  sein Wohlgefallen zu erhalten, war es nicht getan. 

Was steckte also wirklich hinter meiner Situation?

Wenn der prägnante Blick in die kapitalistische Gesellschaft zu Beginn und das Zitat von al-Ghazālī zusammengeführt werden, entpuppt sich für mich, dass meine Motivation der Handlungen vermehrt nach dem Prinzip «viel hilft viel» ausgerichtet war und nicht nur, um das Wissen für Allah erwerben zu wollen. Für mich ein tiefliegender Grund, weshalb sich eine unachtsame Haltung und ein Druck spürbar gemacht haben und sich wiederkehrende innere Blockaden im Prozess der Wissensaneignung aufzeigten.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, habe ich bislang vieles umsonst gemacht? Das kann nicht sein, Allah ist der Gerechte (al-ʿAdl). Wenn ich mir unrecht tue, ist Er derjenige, der mir gegenüber aus seiner Barmherzigkeit heraus immer gerecht ist. Denn die Absicht tatsächlich rein zu halten, ist ein stetiger Prozess der Selbstreflexion und eine achtsame Übung darin.

Auch wenn man meint, das kapitalistische Gedankengut nicht direkt anzunehmen, zu befürworten, kann es einen trotzdem ganz unbewusst, wie in meinem Fall, einholen. Die Umwelt hat früher oder später einen Einfluss auf den Menschen. Wenn er diesen nicht bewusst wahrnimmt und nach den eigenen islamischen Werten gemäß Koran und Sunna reflektiert, können sich bestimmte Verschiebungen vollziehen. Dieses Beispiel macht auf ein gegenwärtiges Problem der Bedeutungsverschiebungen aufmerksam.

Anhand von al-Ghazālī’s Texten wird deutlich, dass Begriffe und Konzepte so verstanden werden müssen, wie sie auch in der Wirklichkeit intendiert sind. 

Jede Weltanschauung geht auf bestimmte Konzepte zurück und diese stehen in einem Zusammenhang. Es kann sich keine klare islamische Weltanschauung herausbilden, solange die Konzepte diffus sind oder unpassende und fremde eingebracht werden. Demzufolge müssen Konzepte richtig definiert, verstanden und in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden. Denn je schärfer und klarer die islamische Weltanschauung ist, desto besser ist die Orientierung in der Welt und trägt zur Klarheit im Leben und den rechtmäßigen Zielen bei. 

In meinem Fall hat das fremde Konzept der kapitalistischen Gesellschaft entlang dem Leistungsgedanken und dem Optimierungsdruck ganz subtil zu einer Verständnisverschiebung über Allah und meiner Beziehung zu Ihm geführt.

Wie wir wissen, ist der religiöse Pfad alles andere als einfach und die unbewusste Identifikation mit dem Effizienzdenken und dem Drang zur Optimierung, welches die kapitalistische Gesellschaft stetig suggeriert, erschwert und blockiert die Gotteshingabe um weitere Meilensteine. Denn die kapitalistischen Grundprinzipien stehen in jeglicher Hinsicht konträr zu dem erstrebenswerten religiösen Pfad.

• Grundsätzlich richten sich die kapitalistischen Grundprinzipien dem Diesseits zu, das Handeln nach der niedrigen Triebseele zu richten, wohingegen die ewige Glückseligkeit eines Muslim nur im Jenseits zu erlangen ist, im Lichte der Gotteserkenntnis und der eigenen Charakterverschönerung gemäß Koran und Sunna. 

• Der Mensch hat im kapitalistischen System keinen individuellen Wert, wobei Allah all Seinen Geschöpfen maßlosen Wert zuspricht. Solange wir Menschen Ihm aus Ignoranz und Eitelkeit nichts Beigesellen, ist das Tor seiner Barmherzigkeit bis zum Tod offen. 

• Im kapitalistischen System soll der Mehrwert – das Kapital – kontinuierlich vermehrt werden, welches vom Kapitalbesitzer verdeckt und einseitig angeeignet wird. Auf dem religiösen Pfad bewertet Allah die Handlungen der Menschen entsprechend ihren Absichten und sie bekommen im Jenseits und/oder Diesseits den rechtmäßigen Lohn oder Bestrafung für jede Tat. Egal welche Handlung der Mensch vollzieht, es ändert sich nichts an der Allmacht von Allah, weder vermehrt noch verringert sich Seine Macht durch die eigenen Taten.

• Das kapitalistische System zwingt den Menschen durch die (verschleierte) Fremdbestimmung, seine Lebenszeit für das System zu opfern, wohingegen der religiöse Pfad gemäß Koran und Sunna den Menschen zur Selbstbestimmung erzieht, sie von jeglichen inneren wie äußeren Zwängen befreien will, damit wir in das Paradies eintreten dürfen.

Vor dieser Bestandsaufnahme besteht die Notwendigkeit, mit Willenskraft und Selbstkontrolle die eigenen Prioritäten, Kapazitäten sowie Ressourcen zu erfassen und diese im Sinne eines rechtmäßigen Maßstabes gemäß Koran und Sunna auszurichten. Gleichermaßen ist die Erschließung der Widersprüche und Probleme in einer kapitalistischen Gesellschaft bzw. dem Zeitgeist in dem man lebt, für die Perspektiverweiterung und Positionierung eines kritisch-reflexiven Muslims sehr entscheidend. Die Grundlage, vernünftige Entscheidungen in diesem Kontext zu treffen, ist nur mit dem Wissen als Grundwert möglich. Dementsprechend muss in der heutigen Zeit entlang der Informationsflut das nützliche vom unnützen Wissen nach dem rechtmäßigen Maßstab in allen Lebensbereichen stetig reflektiert und selektiert werden.

Verfasst von:

Mehtab Ülker

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