Die Glaubenskrise der Millennial Muslime

Unter den Muslimen, die in den 90ern geboren wurden, ist eine Pandemie ausgebrochen. Obwohl sie gestern noch regelmäßig auf Veranstaltungen der Moschee und Mitglieder in islamischen Hochschulgruppen waren, sei es als Sprecher, Organisationsteam oder Teilnehmer, ist heute nicht viel davon übrig geblieben. Viele stecken in einer tiefen Glaubenskrise und in den schlimmsten Fällen haben sie der Religion gänzlich den Rücken gekehrt.

Wie konnte das passieren? Sie waren doch so aktiv! Gerade heute sollte es doch noch einfacher sein, durch die vielen Social Media Profile Hilfe zu finden.

Trotz ihrer aktiven Vergangenheit und der gegenwärtigen muslimischen Online-Landschaft beobachten wir, wie das religiöse Rückgrat vieler 30+ Muslime zerbricht. Die Ursache ist sehr komplex, vielschichtig und hat immer eine individuelle Komponente. Es gibt kein Allerheilmittel, dass man den Muslimen in einer Glaubenskrise verabreichen kann. Es ist verantwortungslos und naiv, Ratschläge zu geben, wie: «Lies mehr Koran!», «Du musst mehr beten!», oder  »Stell nicht zu viele Fragen!»

Dieser Ansatz verschlimmert die Situation. Denn wenn man diesem Rat folgt, mehr Koran liest, mehr betet und die Glaubensfragen unter den Teppich kehrt, sich aber keine Besserung einstellt: Was dann?

Man wird denken, dass nichts mehr hilft. Alles erscheint aussichtslos. Wenn selbst Allahs Worte den eigenen Zustand nicht verbessern, dann gibt es keine Hoffnung mehr und ein Zeichen dafür, dass man Allahs Gunst verloren hat. Mit diesen Gedanken wird das tiefe Loch der Glaubenskrise besiegelt und die letzten Funken von Iman versuchen, in der Dunkelheit des Zweifels zu überleben. 

Leider sind es oft die Muslime selbst, die uns in das tiefe Loch der Glaubenskrise stoßen und am Ende dabei helfen, das Loch zu versiegeln, weil sie uns für einen hoffnungslosen Fall halten. 

Als wäre es nicht schon schwer genug in einem nicht-muslimischen Land den Islam (vor allem für Frauen) sichtbar zu praktizieren, wird die Glaubensgemeinschaft, die eigentlich Rückhalt geben sollte, zu einer Axt, die tiefe Kerben in das religiöse Rückgrat schlägt. 

Wir kämpfen tagtäglich gegen Anfeindungen seitens der Gesellschaft, unserer eigenen Familie,  Freunde, Kommilitonen oder Arbeitskollegen. Darüber hinaus haben wir den Stress des Alltags, in dem wir uns um die Schule, Universität, Arbeit und Familie kümmern müssen. Und wir machen uns das Ganze selbst noch schwerer in dem wir uns auf Social Media herumtreiben und die vielen lachenden und tanzenden Muslime sehen, die offensichtlich alles im Griff haben und glücklich sind, während wir auf religiöser und familiärer Ebene verzweifeln. Darüber hinaus schauen wir uns regelmäßig an, wie Muslime in anderen Ländern leiden und unterdrückt werden. Prediger rufen uns dazu auf, den Zustand der Ummah zu ändern und dem Leid der Glaubensgeschwister endlich ein Ende zu setzen.

Ist es bei all diesen Faktoren noch verwunderlich, dass wir irgendwann resignieren und all die Schläge auf unsere Psyche und unser religiöses Rückgrat uns zu Fall bringen? 

Ist es nicht naiv, zu versuchen all diesen Problemen und Narben nur mit Koranrezitation und dem Gebet entgegenzuwirken?

Ich bin alles andere als ein Schwarzmaler und halte nichts davon, immer nur andere und äußere Faktoren verantwortlich zu machen. Als erwachsene Menschen haben wir Selbstverantwortung zu tragen. Das beginnt damit, die Situation in der man sich befindet realistisch abzubilden, um die Probleme richtig zu erkennen. Erst dann ist es möglich, zielführend zu handeln, um Heilung zu finden. 

Wenn wir aber unseren Zustand und Umstand nicht richtig analysieren dann wird das Virus der Glaubenskrise weiter um sich greifen und die nächste Generation von jungen Muslimen–unsere Nachkommenschaft–wird dann keine Glaubenskrise erleben, weil sie von Anfang an keinen Glauben hatte.

Verfasst von:

Navid Chizari

Doktorand in Islamic Studies (Ibn Haldun University, Istanbul)
Gründer von Rooted Thought

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