Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag. Ihr kommt zu, was sie verdient hat, und angelastet wird ihr, was sie verdient hat.
Koran (2:286)
Ein zentrales Konzept im Islam ist taklīf, welches mit «religiöse Verpflichtung» übersetzt werden kann. In diesem Begriff verbirgt sich ein Schlüssel zu einem ganzheitlichen Verständnis der Religion, der oft übersehen wird. Wortwörtlich bedeutet taklīf «jemanden belasten, eine Erschwernis auferlegen». Wenn man sich den obigen Koranvers vor Augen führt, dann sagt dieser: Allah legt den Menschen Erschwernisse auf, aber nur so viel, wie sie zu leisten vermögen.
Was genau sind diese Erschwernisse und Belastungen?
Für Muslime ist es einfach, diese Frage zu beantworten: Im Sommer morgens um 3:00 Uhr zum Gebet aufstehen. In Ramadan 13-15 Stunden am Tag fasten. Als Muslima bei über 30° Hitze das Kopftuch tragen.
Kurzgesagt, alle religiösen Verpflichtung sind eine Erschwernis.
Damit spreche ich nur das aus, was jeder Muslim und vor allem jede Muslima weiß. Denn wer den Islam ernst nimmt und die religiösen Gebot einhalten möchte, merkt schnell: Es ist nicht einfach.
Gleichzeitig verharrt in uns eine Stimme, die uns das Gegenteil einflüstert: «Es fällt dir alles nur schwer, weil dein Iman zu schwach ist!»
Wer kennt es nicht: Man schaut sich einen Vortrag online über den Islam an, oder geht zu einer Veranstaltung in die Moschee. Wirken die Sprecher vorne nicht immer so, als hätten sie alles im Griff? Als wäre die Religion gar nicht so schwer? Und dass man alles hinbekommt mit der richtigen Menge an Iman?
Hier setzt die Dissonanz zwischen unserer Wahrnehmung und unserer Erwartung ein. Wir merken zwar, dass es schwer ist, sich an die religiösen Gebote zu halten. Doch erwarten von uns selber, dass es leichter sein sollte, man mehr machen muss und die Erschwernis mit der eigenen Schwäche des Imans zusammenhängt. Der Sprecher beim Vortrag macht es ja vor. Bei ihm oder ihr wirkt alles so leicht.
Es könnte sein, dass es dieser Person tatsächlich leicht fällt. Doch ich bin nicht diese Person. Was dieser Person leicht fällt, kann mir schwer fallen. Das macht sie nicht besser und mich nicht schlechter.
Allah hat mir bestimmte Dinge vorgeschrieben, die ich einhalten muss. Ob ich mich dabei schwer tue oder nicht, ist erstmal irrelevant. Wichtig ist, dass ich mich an die Gebote Allahs halte. Denn:
Diejenigen aber, die sich um Unsertwillen abmühen, werden Wir ganz gewiss Unsere Wege leiten. Und Allah ist wahrlich mit den Gutes Tuenden.
Koran (29:69)
Und müht euch für Allah ab, wie der wahre Einsatz für Ihn sein soll. Er hat euch erwählt und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt.
Koran (22:78)
In einer Überlieferung gibt der Gesandte Allahs ﷺ ein Gleichnis für den religiösen Pfad:
Wahrlich, der Weg zum Paradies ist durch seine Hügel ein unebener Weg. Und wahrlich der Weg zum Höllenfeuer leicht durch seinen einfachen Weg.
(Musnad Ahmad Ibn Hanbal)
Der religiöse Pfad ist per Definition mühselig und schwierig. Es ist wichtig, sich diese Erkenntnis vor Augen zu führen. Nicht um zu Verzweifeln, sondern um Voranzukommen. Denn wenn ich weiß, was mich auf meinem Pfad erwartet, dann kann ich mich dementsprechend vorbereiten und den Umständen anpassen. Wenn ich mich aber auf einen Weg begebe, ohne zu wissen was mich erwartet und falsche Selbsterwartungen habe, dann ist das Verzweifeln unvermeidlich.
Im Zusammenhang mit dem religiösen Pfad heißt es im Koran:
Meinen die Menschen, dass sie in Ruhe gelassen werden, nur weil sie sagen: «Wir haben Iman», ohne dass sie geprüft werden? Wir haben bereits diejenigen vor ihnen geprüft.
Koran (29:2-3)
An einer andere Stelle wird beschrieben, wie Gefährten von früheren Propheten durch das Festhalten an der Religion geprüft wurden und sie sich durch ihre Standhaftigkeit auszeichneten:
Und mit wie vielen Propheten zusammen kämpften zahlreiche dem Herrn zugewandte Gläubige! Doch sie gaben nicht auf ob dessen, was sie auf Allahs Weg traf, noch wurden sie schwach, noch unterwarfen sie sich. Und Allah liebt die Standhaften.
Koran (3:146)
Der erste Schritt besteht also darin, sich den schwierigen Pfad vor Augen zu führen und vor allem gesunde Selbsterwartungen zu haben, um daraufhin behutsam und mit Weitsicht Fortschritte zu machen. Solange wir ungesunde Selbsterwartungen haben und die Realität des religiösen Pfades nicht erkennen, werden wir im Zustand der Ohnmacht und Verzweiflung landen.
Sich die eigene Schwäche einzugestehen, ist die Grundlage um zu wachsen. Sie führt uns unsere Bedürftigkeit vor Augen und lässt uns erkennen zu wem wir uns wenden müssen.
O ihr Menschen, ihr seid es, die Gottes bedürftig sind. Und Gott ist der, der auf niemanden angewiesen und des Lobes würdig ist.
Koran (35:15)
Wenn wir uns unsere menschlichen Schwächen eingestehen und erkennen, dass nur Allah den Weg erleichtern kann dann befinden wir uns im Zustand der Hingabe–dem prophetischen Pfad des Islam:
Wenn dich meine Diener nach Mir fragen, so bin Ich nahe, und Ich erhöre den Ruf des Rufenden, wenn er Mich anruft. Sie sollen nun auf Mich hören, und sie sollen an Mich glauben, auf dass sie einen rechten Wandel zeigen.
Koran (2:186)