Der Informationswahn & ihre selbsternannten Experten


In diesem Blog soll der Zusammenhang von drei modernen Phänomenen aufgezeigt werden, um ein anderes Licht auf die Probleme des religiösen Diskurses unter Muslimen zu werfen und zu verstehen, warum es sich anfühlt, als würden wir in einem Hamsterrad stecken. Dieser Beitrag beansprucht für sich nicht umfassend zu sein und alle Themen ausreichend abzudecken. Nichtsdestotrotz gibt er einen ausreichenden Überblick, um größere Zusammenhänge zu beleuchten, die übersehen werden.

Bei den drei Problemen handelt es sich um:

1. den Einfluss der Unterhaltungsindustrie und dem Internet auf die Erwartungshaltung der Lernenden bzw. Fragenden.

2. die Informationsflut, die zur Dekontextualisierung der Informationen und damit zum dekontextualisierten Denken führt

3. das Aufkommen von selbsternannten Experten, vor allem im religiösen Kontext & die Erwartungshaltung im Umgang mit ihnen.

Sogar eine nicht ausführliche Darstellung dieser Themen und ihrer Zusammenhänge wird wesentlich länger, als man von einem Blog gewohnt ist. Darum soll erst eine Zusammenfassung gegeben werden, in der die Behauptungen ohne Belege durch Studien und Verweise dargestellt werden. Wer weitere Details möchte, kann die etwas detailliertere Ausführung lesen. Ansonsten kann man nach der Zusammenfassung direkt zum Fallbeispiel springen.


1. Zusammenfassung

Führen wir uns den Lernprozess vor Augen, dann haben wir drei Elemente: den Lernenden oder Fragenden, den Lernprozess und den Lehrer oder Experten. Die oben genannten Probleme beziehen sich auf jeweils eines dieser Elemente.

Lernende haben aufgrund der neuen Medien, angefangen beim Fernsehen bis zum Computer und dem Smartphone, die Erwartung, dass Inhalte schnell, unkompliziert und am besten unterhaltsam vermittelt werden. Vor allem bei religiösen Fragestellungen kommt bei den meisten Unverständnis auf, wenn man ihnen sagt, dass gewisse Themen komplex sind und vom Lernenden oder Fragenden Grundlagenwissen abverlangen. Das heißt, eine Antwort wird nicht nachvollziehbar sein, weil größere Zusammenhänge aufgrund des fehlenden Basiswissen nicht erkannt werden. 

Kurzgesagt: Infotainment hat dazu geführt, dass man denkt, alles sei schnell und einfach zu erklären und dass der Fragende keine Voraussetzung erfüllen muss. Wenn ein Sachverhalt nicht vermittelt wird oder Erwartungen an den Fragenden gestellt werden, dann ist das Problem auf  der Seite des Gefragten. Dieses Phänomen beobachtet man vor allem im religiösen Diskurs. Muslime und Nicht-Muslime ohne irgendwelche Grundkenntnisse werfen (häufig suggestive) Fragen auf wie: Ist es nicht ungerecht, dass Musliminnen Kopftuch tragen müssen und Männer nicht? Warum haben Männer mehr Rechte als Frauen? Wenn Gott barmherzig ist, warum kommen dann Ungläubige nicht ins Paradies? Es wird erwartet, dass solche Fragen in 4-5 Sätzen zufriedenstellend erklärt werden, sodass der Fragende überzeugt wird und alles Sinn macht. Wenn man darauf verweist, dass größere Zusammenhänge beachtet werden müssen oder man weiter ausholen muss, dann mache man das Thema komplizierter als es eigentlich sei. 

Das bringt uns zum zweiten Problem: Die Auswirkungen der Informationsflut und den dekontextualiserten Informationen. Die Erwartung, dass Fragen unabhängig von größeren Kontexten beantwortet werden sollen, geht auf die Informationsflut zurück, der wir uns tagtäglich aussetzen. Wir werden überflutet mit Ereignissen auf der Welt, ohne größere Kontexte zu kennen. Jeder Abschnitt in den Nachrichten ist eine in sich geschlossene Einheit ohne Relevanz zum nächsten Thema: Krieg in Europa, die Fussballergebnisse und dann die Wettervorhersage. 

Sozialen Medien haben diesen Umstand um ein Vielfaches verstärkt. In den Instagram-Stories sieht man bei ein und derselben Person, was sie morgens gegessen hat, dass sie beim Fitness war, und dann ein Artikel über Rassismus. Bei TikTok: 20 Sekunden Tanzvideo, 10 Sekunden Katzenvideo und 30 Sekunden Kochvideo.

Es ist naiv zu glauben, dass diese Masse an Stimulationen und Informationen, denen wir uns freiwillig(!) aussetzen, keine Auswirkung auf unser Gehirn, unsere Denkmuster und unsere Aufmerksamkeitsspanne hat. Man sollte den Zusammenhang zum ersten Problem schon erkennen: Bei Fragen, v. a. religiöser Natur soll es schnell gehen, bitte nicht ausholen und nichts vom Fragenden abverlangen. 

Das bringt uns zum dritten Problem: Das Aufkommen von selbsternannten Experten. In der beschriebenen Welt von Informationsflut und Überstimulierung, die von dekontextualisierten Informationen und Denken geprägt ist, geht es nicht mehr um wahre Expertise sondern darum, wer Inhalte am besten verpacken kann. Wer es schafft, ein komplexes Thema in 3-4 Slides auf Instagram oder 30 Sekunden auf TikTok schön und unkompliziert darzustellen, gewinnt die Aufmerksamkeit. Und wer die meisten Klicks, Likes und Follower generiert, hat recht. Wenn man jetzt noch Wissenschaftlichkeit andeutet, indem man Fußnoten verwendet und «weitere Literatur» in der Beschreibung vorschlägt, ist das Bild der Expertise vollständig. Ob diese Aussagen nun von anderen auf diesem Wissensgebiet akzeptiert werden oder nicht, spielt keine Rolle, denn der (selbsternannte) Experte hat seinen Teil geleistet. Jetzt ist die andere Seite dran, die Argumente zu bringen und darauf zu reagieren. Natürlich muss es genauso schön und unkompliziert sein. Wer auch nur mit einem Hauch akademischer Standards vertraut ist, weiß, dass das unmöglich ist.

Daraus resultiert eine Erwartungshaltung, vor allem beim religiösen Diskurs, dass auf jede Behauptung eingegangen werden muss. Das wiederum führt dazu, dass man als Gemeinschaft intellektuell kaum bis gar keine Fortschritte macht. Der religiöse Diskurs steckt im Treibsand fest.  Seit Jahren wird immer noch über dieselben Themen geredet. An ihrer Spitze: das Kopftuch. Man sollte meinen, dass nach einem Jahrzehnt islamischer Theologie an Universitäten die Grundfragen geklärt werden. Jedoch ist es dazu gekommen, dass Glaubensgrundsätze und Praktiken, die bis dato nie jemand anzweifelte, in Frage gestellt werden.

Wer muslimische Profile auf Sozialen Medien verfolgt, hat es sicherlich mitbekommen: Es wurde unter vielen Dinge behauptet, dass beispielsweise der Monat Ramadan immer zu bestimmten Sommermonaten sei. Die Behauptung wurde aufgestellt, Livestreams gemacht, Muslime verwirrt, eine Widerlegung geschrieben, ja sogar ein Vortag in der Moschee dazu gehalten. Was hat es gebracht? Das man Gewissheit über etwas schafft, woran es gar keinen Zweifel hätte geben sollen. 

Diese Situationen beginnen durch selbsternannte Experten, aber sie würden nicht für Verwirrung sorgen, wäre man religiös gefestigt oder würde diesen selbsternannten Experten keine Aufmerksamkeit schenken. Dieser Status quo soll anhand eines Gleichnisses illustriert werden:

Eine Gruppe von Muslimen möchte ein Gebäude errichten, um als Gemeinschaft zusammenzukommen, sich intellektuell weiterzubilden und Projekte umzusetzen. Ein kleiner Teil von Experten und ihre Schüler bereiten einen Bauplan vor und man beginnt gemeinsam, das Fundament zu ebnen und die ersten Ziegelsteine zu legen. Es erscheint eine Person, die im Abseits steht und bei der Arbeit nicht mithilft. Sie fängt an, Ziegelsteine wegzunehmen, schlägt vor, das Gebäude anders aufzubauen und sagt, dass man nicht nach dem Plan der Experten und ihren Schülern gehen soll. Diese Person präsentiert sich als Experte, aber widerspricht in allen Punkten der Expertengruppe und ihren Schülern. Die Gemeinschaft könnte ihn einfach daran hindern, die Steine wegzunehmen, aber stattdessen schaut die Gemeinschaft zu und erwartet, dass man ihnen erklärt, warum der Bauplan dieses selbsternannten Experten fehlerhaft sei. Die Experten und Schüler beginnen darzulegen, warum ein Ziegelstein bereits an der richtigen Stelle ist. Jedes Mal, wenn die Gemeinschaft sich dann einig ist, tritt der selbsternannte Experte auf und nimmt einen Stein von einer anderen Ecke weg und die Diskussion beginnt von vorne. Das Gebäude dieser Gemeinschaft bleibt letztendlich nur ein Wunschtraum, weil man zulässt, dass der selbsternannte Experte eingreift, anstatt ihn abzuhalten oder die Steine so fest zu verbauen, dass sie nicht weggenommen werden können. 

Was ist dieses Gebäude? Es ist die geistige Vorstellung der Muslime von ihrer Religion. Solange man dieses nicht festigt und wahre Experten von selbsternannten Pseudo-Experten nicht unterscheiden kann, wird man früher oder später in den Zustand von Zweifel geraten. Das wiederum wird dazu führen, dass man weder als Individuum noch als Gemeinschaft wachsen wird.

Als nächstes folgt die detaillierte Darstellung der drei Probleme. Wer den drei Behauptungen zustimmt, kann zum Fallbeispiel zum Problem der «selbsternannten Experten» übergehen.


2. Infotainment & ihre Folgen

«Der wesentliche Beitrag des Fernsehens zur Bildungstheorie besteht in dem Gedanken, dass Unterricht und Unterhaltung untrennbar miteinander verbunden sind. (…) Sieht man sich die pädagogische Literatur an, so wird man hier und da die Meinung finden, dass Kinder am besten lernen, wenn sie sich für das, was sie lernen sollen, interessieren. Man wird auch finden – Platon und Dewey haben es ausdrücklich gesagt -, dass der Verstand am besten gedeiht, wenn er in einer gefestigten emotionellen Grundlage wurzelt. Man wird sogar finden, dass es sich am besten unter einem liebevollen und gütigen Lehrer lernt. Aber noch nie hat jemand behauptet, oder angedeutet, dass sinnvolles Lernen wirksam, dauerhaft und wirklich bewerkstelligt werden kann, wenn der Unterricht zur Unterhaltung wird.»[1]Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 179.

Wer liebt sie nicht: Infografiken & Infotainment-Videos. Komplizierte Inhalte schön bunt und einfach mit Animationen dargestellt. Am besten nicht länger als 2-3 Minuten.

Postman spricht im Zitat über das Fernsehen, weil in den 1980ern das Internet die Welt noch nicht erobert hatte. Nichtsdestotrotz sind seine Beobachtungen aktueller denn je. Hierfür muss man einfach das Wort «Fernsehen» mit Sozialen Medien oder YouTube ersetzen. 

«Ich sage nur, dass das Fernsehen (…) dadurch, dass es die Zeit, die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmungsgewohnheiten unserer Jugend zu kontrollieren vermag, die Macht erlangt, ihre Erziehung zu kontrollieren.
Deswegen halte ich es für zutreffend, wenn man das Fernsehen als Curriculum bezeichnet.»[2]ebd., S. 178.

Es wäre naiv zu glauben, dass Menschen, die regelmäßig durch Instagram & TikTok scrollen, in ihrer Wahrnehmung der Welt nicht beeinflusst werden. Ich sage bewusst «Menschen», weil es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen beim «Zombie Scrolling», dem ziellosen Wischen mit der Erwartung, etwas Unterhaltsames oder besser gesagt Stimulierendes zu sehen. Zu selten – oder nie – stellt man sich die Frage: Was macht die Informationsflut und Überstimulierung mit mir? 

Ist es normal, dass ich auf Instagram Stories in einem Moment über das Leid von Kriegsopfern informiert werde und direkt in der nächsten Story Ali ein Bild von einer Salatschüssel teilt, um der Welt mitzuteilen, dass er jetzt Veganer geworden ist? Was mache ich mit diesen beiden Informationen?

Kurzgesagt: Nichts. Rein gar nichts!

Der Selbstzerstörungsmechanismus von Instagram-Stories ist die perfekte Metapher für die Irrelevanz der Informationen. Die zusammenhangslosen Stories lenken die Aufmerksamkeit von A nach B und lösen sich dann innerhalb von 24 Stunden in Luft auf. Instagram-Stories enthalten Puzzleteile zu einem nicht existierenden Puzzle, Zutaten ohne Rezepte, eine Wegbeschreibung ohne Ziel. So sammeln wir fleißig Puzzleteile, ohne dass ein Bild entsteht, sammeln Zutaten, ohne je ein Gericht zu kochen, bekommen Wegbeschreibungen ohne ein Ziel zu erreichen.

«Coleridges berühmter Vers ‘Wasser, Wasser überall, aber kein Tropfen zu trinken’ liefert fast so etwas wie ein Motto für eine solche dekonextualisierte Informationsumwelt: eine Flut von Informationen, aber nur sehr wenig davon war brauchbar. (…)
Denn zum ersten Mal in der Geschichte stehen die Menschen vor dem Problem, dass sie mit Informationen übersättigt sind, und damit gleichzeitig vor dem anderen Problem, dass sich ihre soziale und politische Handlungsfähigkeit verringert hat. (…)
Von nun an ging jeden alles an. Zum erstmal wurden uns Informationen übermittelt, die lauter Antworten auf ungestellte Fragen gaben und die uns jedenfalls kein Recht zur Erwiderung einräumten.»[3]ebd., S. 87-89.

Postman spricht hier nicht etwa von Sozialen Medien sondern von Nachrichten, die zum ersten Mal über den Telegraphen vermittelt wurden. Wenn er also das Wort «Information» verwendet, meint er nicht die Salatschlüssel von Ali, sondern Nachrichten, die mit Mühe über den Telegraphen vermittelt wurden. Er spricht also von Informationen, die heutzutage in den Tagesnachrichten erscheinen würden. Dennoch kommt er zu dem Ergebnis, dass sehr wenig von diesen Informationen brauchbar sei, denn:

«Der Telegraph brachte einen öffentlichen Diskurs in Gang, der einige seltsame Merkmale aufwies: Seine Sprache war die Sprache der Schlagzeilen – auf Sensationen versessen, bruchstückhaft, unpersönlich. Nachrichten nahmen die Form von Slogans an, die man voller Erregung aufnehmen soll, um sie unverzüglich wieder zu vergessen. Die Sprache dieses Diskurses war diskontinuierlich. Jede Botschaft hatte mit denen, die ihr vorausgingen oder folgten, nichts zu tun. Jede „Schlagzeile“ stand für sich, war ihr eigener Kontext. Der Empfänger musste ihr einen Sinn geben, wenn er dazu imstande war; der Sender war dazu nicht verpflichtet. (…) Der telegraphische Diskurs ließ keine Zeit für Betrachtungen aus historischem Blickwinkel und gab dem Qualitativen keine Priorität. Für den Telegraphen bedeutet Intelligenz, von vielem „gehört zu haben“, und nicht, es zu „verstehen“.»[4]ebd., S. 90-91.

Als wäre es nicht genug, dass wir über alles Bescheid wissen müssen, gibt es das ungeschriebene Gesetz, dass wir zu allem eine Meinung haben müssen. Thomas Bauer stellt diese Erwartungshaltung gut dar:

«Viele Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird, glauben schließlich selbst, alles zu verstehen. Deshalb hat man immer zu allem eine Meinung. Eine Meinung zu haben, wird geradezu vorausgesetzt. Als ich einmal unversehens in eine Meinungsumfrage geraten war, reagierte der Interviewer ungehalten, als ich ihm erklärte habe, ich habe zur Präimplantationsdiagnostik keine Meinung, weil ich darüber noch nie ernsthaft nachgedacht hätte und ohnehin nicht betroffen sei. Aber ich müsse doch wenigstens eine Meinung haben, meinte er.»[5]Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, S. 89.

Was bedeutet dieser Umstand ganz spezifisch für Muslime, die ihre Religion ernst nehmen wollen? Eine ganze Menge von Problemen. Zwei werden erwähnt, wobei nur auf eines genauer eingegangen wird.

1. Man unterscheidet nicht mehr zwischen nützlichem, nicht nützlichem und schädlichem Wissen. Diese Einteilung geht auf mehrere Überlieferungen des Gesandten ﷺ zurück. In einem Bittgebet heißt es: «O Allah, ich nehme Zuflucht bei dir vor nicht nützlichem Wissen.»[6]Muslim (2722). In einem anderen Bittgebet sagt er ﷺ: «O Allah, ich bitte Dich um nützliches Wissen.» [7]Ibn Mājāh (925). Aus Überlieferungen wie diesen haben Gelehrte Prinzipien im Umgang mit Informationen und dem Wissenserwerbe abgeleitet. Diese Thematik wird in einem kommenden Blog separat und ausführlicher behandelt.

2. Durch den einfachen Zugang zu Informationen entsteht eine Selbstüberschätzung, worauf hier genauer eingegangen wird.

Selbstüberschätzung
Wie entsteht Selbstüberschätzung? Sicherlich hat man von dem Dunning-Kruger-Effekt[8]https://www.geo.de/wissen/23942-rtkl-psychologie-dunning-kruger-effekt-weshalb-inkompetente-menschen-oft-das-groesste gehört, bei dem Menschen mit geringen Fähigkeiten bei einer Aufgabenstellung ihr Können überschätzen und meinen, ein besseres Ergebnis abzulegen, als sie es tatsächlich können. Die Informationsflut hat dazu beigetragen, weil Menschen zwischen den Informationen, die zur Verfügung stehen und ihrem eigenen Wissen nicht mehr unterscheiden. 

Wie am Anfang erwähnt, bevorzugen wir es, komplizierte Inhalte einfach und am besten mit Bildern und Musik präsentiert zu bekommen. Das führt dazu, dass wir meinen, alles sei einfach mit wenigen Worten zu erklären und dass es keine Voraussetzungen gibt, um eine Frage beantwortet zu bekommen. Wer das Gegenteil behauptet, mache es komplizierter als es sei. Denn man sehe ja, dass es möglich sei. Man muss nur auf Instagram und YouTube schauen, wo kurz und bündig komplizierte Themen anhand von 3-4 Slides oder 3-4 minütigen Videos erklärt werden. Hierbei macht es keinen Unterschied, wer der Betreiber der Seite ist. Wichtig ist nur, dass das Gefühl eingesetzt hat, Wissen erlangt zu haben. Wenn diese neue Information nun von jemandem in Frage gestellt wird, reagiert das Gegenüber empfindlich, weil man sich in der vermeintlich eigenen Meinung angegriffen fühlt.

Selbst wenn man sich nicht mit kurzen Videos oder Slides zufrieden gibt und stattdessen online recherchiert und meint, viel gelesen zu haben, so zeigen Studien, dass Menschen heutzutage zwar mehr lesen, aber es sich dabei um eine oberflächliche Art des Lesens handelt. 

«Es ist ziemlich klar, schloss Liu [Bibliotheksprofessor an der San José State University], dass mit der Flut von digitalem Text auf unseren Computern und Handys „die Menschen mehr Zeit mit Lesen verbringen“ als früher. Aber es ist ebenso klar, dass es eine ganz andere Art des Lesens ist. Er schrieb, dass sich ein „bildschirmbasiertes Leseverhalten abzeichnet“, das durch „Browsing und Scannen, Schlüsselwort-Suche, einmaliges Lesen [und] nichtlineares Lesen“ gekennzeichnet sei. Die Zeit „für vertieftes Lesen und konzentriertes Lesen“ nehme hingegen stetig ab.»[9]Nicholas Carr, The Shallows, S. 138.«It’s quite clear, Liu concluded, that with the flood of digital text during through our computers and phones, “people are spending more time on reading” … Continue reading

Um das Problem noch deutlicher zu machen, ist es wichtig zu erwähnen, was es bedeutet, etwas zu wissen. Man kann zwischen zwei Arten von Wissen unterscheiden: «Wir kennen ein Themengebiet selbst, oder wir wissen, wo wir Informationen darüber finden können.»[10]ebd., S.143.
«We know a subject ourselves, or we know where we can find information upon it.»

Wie hängt das Ganze mit der Selbstüberschätzung zusammen?

«Es stellt sich heraus, dass wir nicht sehr gut darin sind, das Wissen, das wir in unseren Köpfen behalten, von den Informationen zu unterscheiden, die wir online finden. Wie Daniel Wegner und Adrian Ward in einem Artikel von Scientific American aus dem Jahr 2013 erklärten, leiden Menschen oft unter Intelligenzwahn (delusions of intelligence), wenn sie Informationen über ihr Handy oder Computer abrufen. Sie haben das Gefühl, dass „ihre eigenen geistigen Fähigkeiten“ die Informationen generiert haben, nicht ihre Geräte. Mehrere Studien, darunter eine umfangreiche Reihe von Experimenten in Yale, haben dieses Phänomen der „Fehlzuschreibung“ (misattribution) dokumentiert und zeigen, dass Menschen, wenn sie online Informationen sammeln, glauben, dass sie klüger und sachkundiger sind, als sie tatsächlich sind. „Das Aufkommen des ‚Informationszeitalters‘ scheint eine Generation von Menschen hervorgebracht zu haben, die das Gefühl haben, mehr als je zuvor zu wissen“, schlossen Wegner und Ward, obwohl „sie möglicherweise immer weniger über die Welt um sich herum wissen.»[11]ebd., S. 237.«It turns out that we’re not very good at distinguishing the knowledge we keep in our heads from the information we find online. As Daniel Wegner and Adrian Ward explained in a 2013 … Continue reading

Um die Thematik noch greifbarer zu machen, möchte ich es anhand eines Fallbeispiels darstellen, wie die selbsternannte Expertise im religiösen Kontext aussieht.


3. Fallbeispiel: «Ein Gemeinnütziger Theologe»
Im religiösen Kontext entsteht oft das Problem von selbsternannten Experten. Damit meine ich Menschen, die vielleicht belesen sind und viele Verweise geben können, aber Opfer des «Intelligenzwahns» sind. Hiervon ist das gesamte Spektrum befallen: Salafi, Sunni, Sufi, Hizbu-Tahriri, Liberale und wie sie sonst noch heißen. 

Als konkretes Beispiel soll die Webseite theologenwuerze.de dienen.[12]Bei wissenschaftlichen Arbeiten ist es üblich, Fallbeispiele für die allgemeinen Thesen vorzulegen. Außerdem hört man häufiger in Vorträgen und Livestreams, in denen über die Themen wie … Continue reading
Warum ausgerechnet diese Seite?

1. Ich habe öfters private Gespräche mit dem Betreiber der Webseite geführt und versucht, ihn auf die Fehlerhaftigkeit seiner Aussagen aufmerksam zu machen. Darum habe ich auch bei einem seiner Beiträge vorgeschlagen, in einem Livestream seine Behauptungen auf den Prüfstand zu stellen. Er hat das Angebot abgelehnt. 

2. Jeder Person steht es frei, in den eigenen Vierwänden seine Religion so zu praktizieren, wie er oder sie möchte. Sobald man aber in die Öffentlichkeit tritt, sollte man damit rechnen, dass die Aussagen und Behauptungen Kritik ausgesetzt werden. Diesen Sachverhalt habe ich ebenfalls kommuniziert, weil ich öfter von ihm gehört habe, man solle ihn doch einfach lassen und er mache ja nur seine eigene Sache. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Wenn man aber öffentlich oder im privaten Kreise normativ über die Religion spricht, muss man bereit sein, die eigenen Thesen auszudiskutieren. Das ist die Grundlage jeder Wissenschaftlichkeit.

3. Im Zusammenhang mit dem Problem der selbsternannten Experten erfährt man genug von der Webseite, um ihn in dieser Gruppe einzuordnen. Natürlich verwirft er diese Einschätzung mit der Begründung, es sei ein ad hominem Argument. Genau hier kommen wir zu der vorigen Ausführung: Heutzutage ist jeder berechtigt, Behauptungen aufzustellen und eine Meinung zu haben, unabhängig ob er oder sie wirklich fundiertes Wissen hat, vor allem wenn es um den Islam geht. Wenn man das zulässt, wie es heutzutage getan wird, dann begibt man sich in eine Situation, in der jeder eine Position kundtut, diese toleriert werden soll und erwartet wird, sich nur inhaltlich auseinanderzusetzen. Das Ergebnis davon sehen wir: Wir begeben uns in ein Hamsterrad, in dem man über Jahrzehnte immer wieder über dieselben Themen spricht und auf alles reagieren muss, egal wer der Sprecher ist. Solange wir keine Standards aufstellen, wird es die nächsten Jahrzehnte so weitergehen und die Verwirrung wird weiter zunehmen.
Wie wir im Fallbeispiel sehen werden, besitzt der Autor weder einen akademischen Grad außer einem Bachelor, noch hat er irgendeine traditionelle Ausbildung genossen. Sobald man die Expertise in Frage stellt, reagieren solche Personen fast allergisch und erwarten, dass man nur auf die Inhalte eingeht und nicht über ihre Qualifikation spricht. Genauso wie man keinen scheinfreien Medizinstudenten, der sich das meiste autodidaktisch beigebracht hat, anerkennt, sollte man es im Bereich der islamischen Wissenschaften nicht tun.

Auf seiner Instagram Seite von theologenwuerze steht «Gemeinnütziger Theologe seit 2005»,[13]https://www.instagram.com/theologenwuerze/ woran wir eine clevere Rhetorik erkennen. Dieser Begriff ist nicht besetzt, d. h. man assoziiert nichts damit. Zwei Dinge werden also getan: Das Wort «gemeinnützig» ruft allgemeine positive Assoziationen hervor und das Jahr soll vermitteln, dass der Autor sich schon sehr lange mit diesem Wissensgebiet beschäftigt. 

Auf der Webseite erfahren wir, dass er 
«seit seiner frühen Jugend die islamischen Disziplinen mit Leidenschaft für Dogmatik/systematische Theologie (ʿaqīda/kalām), muslimischer Normgebung (fiqh), Prinzipienlehre der Normgebung (uṣūl al-fiqh), Sufismus (taṣawwuf), den spirituellen Pfad der Naqšbandīs (ṭarīqa), Geschichte (ins. Frühgeschichte des Islams) und Metaphysik/Philosophie” studiert. (…) Seit 2017 ist er scheinfrei im Master der Islamischen Theologie, verfolgt den Master aber nicht mehr.»[14]https://theologenwuerze.com/ueberuns/Es könnte der Einwand kommen, dass diese Webseite nicht repräsentativ sei für die Qualifikation des Betreibers. Dem ist nicht so, weil der er selber in einem … Continue reading

Im ersten Moment klingt das alles sehr schön und mag beeindrucken. Doch ersetzen wir die Wissenschaft von Theologie mit Medizin und schauen was passiert. Angenommen, eine Person schreibt auf ihrer Instagram- und Webseite Folgendes:
«Ich bin ein gemeinnütziger Arzt seit 2005. Seit meiner frühsten Jugend studiere ich autodidaktisch Bücher über Herzchirurgie, Neurologie und Zahnmedizin. Seit 2017 bin ich scheinfrei im Medizinstudium, aber verfolge es nicht mehr. In meiner Freizeit schreibe ich Beiträge über Herzkrankheiten, Neurologie, Zahnmedizin und analysiere und evaluiere verschiedene Arten medizinischer Eingriffe, um Probleme aufzuzeigen und um einen Beitrag zur Medizin zu leisten.»

Warum das wesentlich absurder kling, hängt damit zusammen, dass wir die wissenschaftlichen Standards der Medizin und fast aller anderen Bereiche verinnerlicht haben und akzeptieren. Im Bereich der islamischen Wissenschaften ist das nicht mehr der Fall. Über dieses Problem haben wir in einem Livestream ausführlich gesprochen.[15]https://www.youtube.com/watch?v=HNq03GHgQOo&t=431s&ab_channel=RootedThoughtDE

Als nächstes sollen die oben gezeigten Symptome der Selbstüberschätzung und des Intelligenzwahns dargestellt werden, d. h. es geht nicht um einen Beitrag, sondern darum, wie sich die oben beschriebenen Phänomene im religiösen Kontext konkretisieren.

Im Jahr 2021 erschien auf der Seite ein Blog mit dem Titel «Hanafitische Genüsse: Wie strikt ist das Alkoholverbot wirklich?»[16]https://theologenwuerze.com/2021/03/10/hanafitische-genusse-wie-strikt-ist-das-alkoholverbot-wirklich/ woraufhin eine Diskussion im Kommentarbereich ausbrach, der mittlerweile gelöscht wurde. Meine Kommentare werden noch in meinem WordPress-Konto angezeigt und dort sieht man, wie ich Aussagen vom Autor zitiere, um darauf zu antworten.[17]Siehe z.B.: https://rootedthought.de/wp-content/uploads/2022/06/Kommentar.png. Teilweise sind auch noch einige Kommentare auf Instagram zu finden: https://www.instagram.com/p/CMQDefcHwnz/.

In meinen Kommentaren habe ich hauptsächlich darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor nicht die Expertise besitzt, um Rechtsurteile (fatwā) zu erteilen, was er aber offensichtlich im Beitrag tut.[18]Im Beitrag heißt es an einer Stelle: «Biere, Wodkas, Whiskys, Rums, Gins, Fruchtweine und Fruchtwässer, alles, was es da draußen noch so an Kuriositäten gibt und welchen Formen und Namen auch … Continue reading Zu der fehlenden Expertise gehören vor allem die fehlenden Arabischkenntnisse, worüber er sich bewusst ist. In einem Kommentar behauptet er sogar, dass die arabische Sprache kein Kriterium für ijtihād sei. Man muss nur einen kurzen Blick in die Werke von uṣūl al-fiqh werfen, um zu sehen, dass das eine leere Behauptung ohne jegliche Basis ist.[19]Siehe z. B. Imam al-Ghazālī, al-Mustaṣfā. Gleiches findet man auch in hanafitischen Werken, wie z.B. einem zeitgenössischem Anfängerwerk von Ṣālīḥ Abū al-Ḥājj, Masār al-wuṣul ilā … Continue reading

Man halte fest: Eine Person, die weder traditionelle Kriterien der Gelehrsamkeit noch universitäre Standards (scheinfreier Master) erfüllt, um als Experte zu gelten, führt einen Blog, in dem er Rechtsurteile spricht und die hanafitische Gelehrsamkeit evaluiert. Das ist so, als würde ein Medizinstudent ohne Abschluss über Operationseingriffe urteilen. So etwas würde keine Wissenschaftsgemeinschaft ernst nehmen. 

Nach einer längeren Auseinandersetzung, in der ich den Fokus auf die fehlende Expertise gesetzt habe, erläutert der Autor schließlich mit Selbstsicherheit seine Herangehensweise, wenn er an seine Grenzen stößt:
«Wenn ich aber eine Passage nicht verstehe, dann nehme ich diese Passage, google sie und bekomme tausende Ergebnisse zu diesem Thema und dies in unterschiedlichen Kontexten. Ich kann diese dann nach Ermessen und Vernunft auswerten.»[20]https://rootedthought.de/wp-content/uploads/2022/06/Kommentar.png

Die Recherche bei ihm sieht also folgendermaßen aus: Er sieht eine Aussage in einem arabischen Text. Wenn er sie nicht versteht, sucht er diese, bekommt Ergebnisse und wertet sie dann aus. Er wendet sich nicht an Experten in dem Bereich, wahrscheinlich weil er sich selbst als einer sieht. Die erste Frage, die man sich hierbei stellt ist: Was sind die Prinzipien oder Kriterien nach denen er die Ergebnisse wählt? Woher weiß man, dass seine Auswertung richtig ist? Wenn er den Text nicht versteht, wie versteht er die Ergebnisse, die ihm gegeben werden?

An einer anderen Stelle sagte er dann:
«Ich selbst habe eine Bibliothek mit mehr als 100k Büchern»[21]ebd.

Hier sieht man sehr schön, wie die Pdf-Dateien auf der Festplatte mit den eigenen geistigen Fähigkeiten vermengt werden. Hier ist ein konkretes Beispiel von dem oben beschriebenen «Phänomen der „Fehlzuschreibung“ (…), dass Menschen, wenn sie online Informationen sammeln, glauben, dass sie klüger und sachkundiger sind, als sie tatsächlich sind.» Vor allem im Bereich der islamischen Wissenschaften ist es sehr einfach, in diese Falle zu tappen, weil es eine Masse an Büchern gibt, die alle vollständig gescannt vorliegen und kostenlos heruntergeladen werden können. Außerdem gibt es auch ein bekanntes Programm namens «Shamila», in dem etliche Bücher sehr einfach durchsucht werden können.

Seine beiden Aussagen lassen sich (polemisch formuliert) wie folgt zusammenfassen: In der Welt des Autors bedeutet Expertise mit Google umgehen können und viele Pdf Dateien haben. Würde man sich von einem Medizin- oder Psychologiestudenten behandeln lassen, der scheinfrei ist, aber mit Google umgehen kann und viele Pdf Dateien besitzt?

Das intellektuelle Erwachen
In dem Beitrag gibt der Autor uns immer wieder Einblicke über seinen Werdegang und sein «geistiges Erwachen»:  
«In meiner Jugend (ca. 15 Jahre alt) gehörte neben anderen Büchern zu meiner abendlichen Lektüre die Ansammlung von Rechtsgutachten (fatāwā). (…) Bei dem Werk stießen wir oft auf Inhalte, die unser Weltbild erschütterten. (…) Der letzte Satz traf mich wie ein Schlag. (…) Ich konnte das damals nicht akzeptieren. Mein Kopf wollte das nicht verarbeiten.»[22]ebd.

Bei der Wissensaneignung empfehlen Gelehrte seit jeher, einen systematischen Aufbau der Werke, die man nacheinander lesen sollte, um Expertise zu erlangen. Eine Sammlung von Rechtsgutachten als «abendliche Lektüre» zu lesen, vor allem als 15-Jähriger, zeigt, dass der Autor bei seinem Wissenserwerb in jungen Jahren nicht an die Hand genommen wurde. Wohl bemerkt ist die fehlende Systematik auch ein Problem an der universitären Ausbildung allgemein. 

Wie ging er mit dem beschriebenen Schockmoment um und was hat er daraufhin getan?
«Ich war zu dem Zeitpunkt mit intensiven Auseinandersetzungen zwischen den Salafiten und „uns, den Sunniten“ beschäftigt. Dabei war immer die Verteidigung der ḥanafītischen Schule ein zentraler Punkt. Jetzt fing ich an, an der Schule selbst zu zweifeln.»[23]ebd.

Man halte fest: Ein 15-jähriger Junge hatte sich damals selbst zum Verteidiger der hanafitischen Rechtsschule und Sunniten insgesamt erklärt. Die gute Absicht und seine Mühen sollte man natürlich anerkennen. Gleichzeitig sollte langsam klar werden, warum der Begriff «selbsternannte Experte» passend ist. 

Weiter heißt es:
«Ich ging zu einem Imām in der Moschee und fragte ihn. Er sagte zu mir, sowas gäbe es nicht und ich solle es vergessen. (…) Ich fragte auch andere Leute, die ‚wissend‘ waren in meinem Umkreis und die hatten von dergleichen noch nie gehört.
Ich blendete das Thema aus und lebte weiter. Gelehrte, mit denen ich saß und die ich begleitete, fragte ich manchmal danach. Sie konnten die Position aber nicht wirklich kohärent erklären. Sie hatten sich eben damit noch nicht wirklich auseinandergesetzt.»

Wer diese «Wissenden» und «Gelehrten» waren, erfahren wir nicht. Aber besteht die Möglichkeit, dass es seinem Imam in der Moschee und den «Wissenden» und «Gelehrten» um ihn herum ebenfalls an Expertise allgemein oder zumindest in dieser Fragestellung fehlte? Ein offensichtliche Frage, die er sich teilweise eingesteht. Eine weitere Frage ist natürlich: Kann es sein, dass die Antwort, die er bekommen hat, kohärent war, aber für den Autor nicht kohärent erschien? Das ist ebenfalls im Bereich des Möglichen, vorausgesetzt man ist demütig genug, um sich das einzugestehen. Hier muss man wieder den Umstand berücksichtigen, dass wir ein Problem haben mit den Imamen in der Moschee und dass ihre Kenntnisse oft begrenzt sind auf ihre Tätigkeiten, d. h. Gemeinschaftsgebete, Eheschließung, Totengebet, und ähnliches. Sie sind also in der Regel nicht die richtige Anlaufstelle für vertiefte theoretische und historische Fragestellungen. Was die Gelehrten angeht, kann ich ebenfalls aus Erfahrung bestätigten, dass es nicht immer einfach ist, Experten zu finden, die ein tiefverwurzeltes Wissen haben und aus dem Stegreif auf alles direkt antworten können. Das heißt aber nicht, dass man zu denselben Schlussfolgerungen kommen muss, wie der Autor am Ende seines Blogs, wo es heißt:

«Mein Anliegen ist es halbgares, identitäres Geschwafel und dieses ideologische „Alles-oder-Nichts-Denken“ zu entthronen. Genug haben wir uns die Dichotomien von Gut und Böse angetan. Die Dīn wurde heute in Beschlag genommen von sog. „Wächtern der Scharia.“»

Von wem spricht er? Wen meint er wenn er sagt: «Genug haben wir uns die Dichotomien von Gut und Böse angetan.»? Ruft man sich den ersten Teil des Beitrags ins Gedächtnis, scheint es ziemlich offensichtlich, dass er mit sich selber spricht. Man sieht am Anfang des Beitrags, wie er sich in seiner Jugend zum «Verteidiger der hanafitischen Rechtsschule» und der Sunniten erklärt hat. Wenn er also von «identitärem Geschwafel» und «Wächtern der Scharia» spricht, wirkt es so, als würde er unbewusst sein altes Ich verarbeiten. Aus anderen Beiträgen ist auch immer wieder rauszuhören, wie der Autor alle, die dasselbe «religiöse Erwachen» noch nicht erreicht haben, in die «Tradiotionalisten»-Schublade steckt. Mit anderen Worten: Dort, wo er sich selber vor einigen Jahren befand. Er verallgemeinert also seine Erfahrung und denkt, dass alle, die sich den Sunniten verschreiben, denselben Pfad betreten und früher oder später auf dieselben Probleme stoßen werden wie er, woraufhin sie entweder zu «identitären Wächtern der Scharia werden» oder in der Lage sind, sich von den «eisigen Ketten» zu befreien und zu denselben Erkenntnissen kommen wie er. 

Die Grundlagendisziplinen richtig lernen, vor allem die Arabische Sprache, und das eigene Verständnis von Experten formen lassen durch das systematische Lesen von Werken, wie es in der islamischen Gelehrsamkeit üblich ist, spielen bei der selbsternannten Expertise vom Autor keine Rolle. Es mag sein, dass er hier und da etwas mit Experten gelesen hat und das würde man ihm zugutehalten. Doch sein Bild von Gelehrsamkeit und Expertise erinnert eher an die katholische Kirche als die islamische Geistesgeschichte. Er sagt nämlich in einem Kommentar zu dem Beitrag: «Ich brauche keine höhere Instanz, die meine Positionen, Überzeugungen und Meinungen erst legitimieren muss. Ich glaube nicht mehr an das Wissensmonopol der Gelehrten, um über die Din zu reden.»[24]www.instagram.com/p/CMQDefcHwnz/ (im Kommentarbereich) Hier wird seine clevere Wortakrobatik wieder deutlich. In der islamischen Gelehrsamkeitstradition gibt es kein «Wissensmonopol». Die Türen stehen und standen schon immer für jeden offen. Auch für den Autor. 

In allen Wissenschaftsbereichen haben sich Standards und Bildungswege etabliert, auf die sich eine Wissenschaftsgemeinschaft geeinigt hat und genauso trifft das für die religiösen Wissenschaften zu. Angenommen ein Medizin- oder Psychologiestudent sagt: «Ich brauche keine höhere Instanz, um Menschen zu behandeln, weil ich nicht mehr an ein Wissensmonopol glaube.» Natürlich kann man das sagen, aber wir würden so jemanden für unvernünftig erklären, weil das, was die Person negativ als «Wissensmonopol» bezeichnet, die Kontrollmechanismen sind, um Schaden von den Menschen abzuwenden und nicht, um sie zu kontrollieren. Wer mehr darüber erfahren möchte, kann sich den bereits erwähnten Livestream anschauen.[25]https://www.youtube.com/watch?v=HNq03GHgQOo&t=431s&ab_channel=RootedThoughtDE

Bei den islamischen Wissenschaften gibt es, wie bei allen anderen Wissenschaften, Grundvoraussetzungen. Hierzu zählt als allererstes die arabische Sprache und allem voran Rhetorik, weil sie sich «als die epistemologische Leitwissenschaft etablierte».[26]Thomas Bauer, Kultur der Ambiguität, S. 384. Eine Disziplin, der der Autor nicht viel Wert beizumessen scheint. Es ist also nicht verwunderlich, wenn er allergisch reagiert, macht man ihn auf die fehlende Expertise aufmerksam. Er ist wie ein selbsternannter Chefkoch, der nie gelernt hat, mit verschiedenen Messern umzugehen und stattdessen für alles ein Buttermesser verwendet. Darum sollte es nicht verwundern, wenn er sagt: «Mein Kopf wollte das nicht verarbeiten.» Wie sollte auch ein Buttermesser, das höchstens Butter schmieren kann, ein dickes, rohes Stück Fleisch schneiden? Ein gestochen scharfer Verstand entsteht nicht ohne die Mittel, um ihn zu schärfen und vor allem nicht, wenn er nicht von einem Experten richtig geschärft wird. 

Muslimische Gelehrte haben schon immer vor dem Phänomen der selbsternannten religiösen Experten gewarnt. Sie haben diese abwertend als ṣaḥafī bezeichnet, d. h. eine Person, die sich das religiöse Wissen autodidaktisch über Bücher aneignet. In einer Überlieferung von Imam Abū Ḥanīfa heißt es:

«Es wurde zu Abū Ḥanīfa gesagt: „In der Moschee gibt es eine Sitzung, bei der sie sich mit fiqh (praktische Theologie) beschäftigen.“
Abū Ḥanīfa sagte: „Haben sie einen Lehrer?“
Sie sagten: „Nein.“
Er antwortet: „Sie werden niemals ein tiefes Verständnis erlangen!“»[27]Muḥammad b. Ismāʿīl al-Muqaddam, Iʿlān bi-ḥurma ahl al-ʿilm al-Islām, S. 337.Das Unterkapitel in diesem Werk erwähnt viele Aussagen der Gelehrten, die mit der Kritik von Autodidakten … Continue reading

Kurioserweise schreibt der Autor sein Verständnis zu dem Sachverhalt in dem Blog Abū Ḥānīfa zu. Abū Ḥanīfa war bekannt für seine Lehrkreise und betonte die Wichtigkeit der Lehrer-Schüler Beziehung, die für den Autor nicht mehr wichtig erscheint, weil Bücher anscheinend ausreichen.

Fairerweise muss man folgendes erwähnen: Sicherlich kennt der ein oder andere Leser eine Person, die die arabische Sprache kennt und bei Lehrern gelernt hat, aber dennoch keine Expertise aufweist, sei es inhaltlich oder methodisch.  Das ist im gesamten Spektrum zu beobachten: Sunnis, Salafis und auch bei Hizb al-Tahrir Anhängern. Arabischkenntnisse und Lehrer sind kein Garant dafür, dass eine Person mit Weisheit und Weitsicht handelt. Wir erleben das aber in allen Wissenschaftsbereichen. Schlechte Ärzte trotz eines Medizinstudiums, schlechte Lehrer trotz eines Lehramtsstudiums, schlechte Therapeuten trotz einer therapeutischen Ausbildung. Bedeutet das, die Voraussetzungen zu verwerfen, nur weil wir auf persönlicher Ebene schlechte Erfahrungen gemacht haben? Verwerfen wir die Idee des Medizinstudiums, weil wir keinen Arzt gefunden haben, der uns bei unseren körperlichen Beschwerden helfen konnte? Offensichtlich nicht. In solchen Fällen sagen wir: Ich konnte keinen guten Arzt finden. Oder wir kritisieren die Art und Weise, wie die Ärzte, Lehrer oder Therapeuten ausgebildet werden. Wir verwerfen aber nicht die Idee der Ausbildung, Grundlagenkenntnisse und Gelehrsamkeit in einem Bereich. Noch unvernünftiger wäre es, von «Wissensmonopolen» der Medizin, Lehre oder Therapie zu sprechen und für eine Anarchie der Wissenschaften zu plädieren. Anarchie ergibt sich dann, wenn man Autodidakten anerkennt und es keine Kriterien, Bedingungen und Schutzmechanismen im Zusammenhang der Meinungsäußerung zu Wissenschaften gibt. 

Fest steht, man muss in unserer heutigen Zeit sehr wachsam und weitsichtig sein, vor allem bei religiösen Inhalten. Wir haben eine Krise der Gelehrsamkeit. Das steht außer Frage. Menschen, die die Religion vermitteln, sollte man sehr genau prüfen, bevor man sich ihnen anvertraut. Wortgewandtheit, Belesenheit, ein voller Bücherschrank, eine volle Festplatte mit Pdf-Dateien, ein langer Bart, ein schön gebundener Turban und bunte Slides sind keine Anzeichen für Expertise. Wir müssen genauer hinschauen. Das Ziel der religiösen Bildung besteht darin, uns ein gutes Urteilsvermögen zu vermitteln, weil sich jeder alleine als Individuum vor Allah verantworten muss. Kein Gelehrter, Theologe, Prediger oder Moschee-Imam wird zwischen uns und Allah stehen. 

Vor allem in der Moderne ist es kein einfaches Unterfangen, vertrauenswürdige Lehrer zu finden. Der Gesandte ﷺ hat über so eine Entwicklung gewarnt:

«Allah nimmt das religiöse Wissen nicht hinweg, indem Er es den Menschen entreißt. Vielmehr nimmt Er das religiöse Wissen hinweg, indem Er die Gelehrten sterben lässt; und wenn keiner von ihnen übrig bleibt, nehmen die Menschen sich Unwissende als Anführer. Sie werden gefragt und sie werden Rechtsurteile (fatwā) geben, bei dem jegliche Grundlage des Wissens fehlt. Sie selbst sind abgeirrt und führen Andere in die Irre.»[28]Muslim (4673).
https://shamela.ws/book/1727/6731#p1

Darum ist es wichtig, genau hinzuschauen, wem man sich anvertraut. Die Voraussetzungen, um vertrauenswürdige Menschen zu finden, sind Demut, die richtige Absicht und das Vertrauen auf Allah.

Quellen

Quellen
1 Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 179.
2 ebd., S. 178.
3 ebd., S. 87-89.
4 ebd., S. 90-91.
5 Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, S. 89.
6 Muslim (2722).
7 Ibn Mājāh (925).
8 https://www.geo.de/wissen/23942-rtkl-psychologie-dunning-kruger-effekt-weshalb-inkompetente-menschen-oft-das-groesste
9 Nicholas Carr, The Shallows, S. 138.
«It’s quite clear, Liu concluded, that with the flood of digital text during through our computers and phones, “people are spending more time on reading” than they used to. But it’s equally clear that it’s a very different kind of reading. A “screen-based reading behavior is emerging,” he wrote, which is characterized by “browsing and scanning, keyword spotting, one-time reading, [and] non-linear reading.” The time “spent on in-depth reading and concentrated reading” is, on the other hand, falling steadily.»
10 ebd., S.143.
«We know a subject ourselves, or we know where we can find information upon it.»
11 ebd., S. 237.
«It turns out that we’re not very good at distinguishing the knowledge we keep in our heads from the information we find online. As Daniel Wegner and Adrian Ward explained in a 2013 Scientific American article, when people call up information through their phones or other computers, they often end up suffering delusions of intelligence. They feel as thought “their own mental capacities” had generated the information, not their devices. Several studies, including an extensive series of experiments at Yale, have documented this “misattribution” phenomenon, revealing that as people gather information online, they come to believe they’re smarter and more knowledgable than they actually are. “The advent of the ‘information age’ seems to have created a generation of people who feel they know more than ever before,” Wegner and Ward concluded, even though “they may know ever less about the world around them.»
12 Bei wissenschaftlichen Arbeiten ist es üblich, Fallbeispiele für die allgemeinen Thesen vorzulegen. Außerdem hört man häufiger in Vorträgen und Livestreams, in denen über die Themen wie gefährliche Prediger und dem häufigen Problem von fehlender Expertise bei Personen auf den sozialen Medien, dass man Namen nennen und nicht zu theoretisch sprechen soll.
Auf der anderen Seite reagieren einige empfindlich und emotional, wenn konkrete Beispiele genannt werden, weil sie die genannte Webseite oder Person für eine Autorität halten oder einfach nur mit ihr sympathisieren. Wissenschaftlichkeit setzt aber voraus, dass man konkrete Beispiele für die Behauptungen nennt, um die Thesen zu stützen oder anschaulicher zu machen. Eine Kritik oder Argument nicht annehmen, weil man mit der kritisierten Person sympathisiert, zeugt nicht von Sachlichkeit.
13 https://www.instagram.com/theologenwuerze/
14 https://theologenwuerze.com/ueberuns/
Es könnte der Einwand kommen, dass diese Webseite nicht repräsentativ sei für die Qualifikation des Betreibers. Dem ist nicht so, weil der er selber in einem Kommentar auf die Seite verwiesen hat mit dem Hinweis, dass er eine Qualifikation hat und diese auf seiner Webseite zu finden sind. Siehe im Kommentarbereich: https://www.instagram.com/p/CfEa7d7t_gs/.
15, 25 https://www.youtube.com/watch?v=HNq03GHgQOo&t=431s&ab_channel=RootedThoughtDE
16 https://theologenwuerze.com/2021/03/10/hanafitische-genusse-wie-strikt-ist-das-alkoholverbot-wirklich/
17 Siehe z.B.: https://rootedthought.de/wp-content/uploads/2022/06/Kommentar.png. Teilweise sind auch noch einige Kommentare auf Instagram zu finden: https://www.instagram.com/p/CMQDefcHwnz/.
18 Im Beitrag heißt es an einer Stelle: «Biere, Wodkas, Whiskys, Rums, Gins, Fruchtweine und Fruchtwässer, alles, was es da draußen noch so an Kuriositäten gibt und welchen Formen und Namen auch immer, ist gemäß der Position des Imam Abū Ḥanīfa erlaubt und zwar in Mengen, die nicht berauschen. Einzig verboten ist der letzte „Becher“, der zur Trunkenheit führte.» Dieser Abschnitt enthält ein Rechtsurteil, weil der Autor die Theorie, so wie er sie verstanden hat, auf moderne Getränke anwendet.
19 Siehe z. B. Imam al-Ghazālī, al-Mustaṣfā. Gleiches findet man auch in hanafitischen Werken, wie z.B. einem zeitgenössischem Anfängerwerk von Ṣālīḥ Abū al-Ḥājj, Masār al-wuṣul ilā ʿilm al-uṣūl.
20 https://rootedthought.de/wp-content/uploads/2022/06/Kommentar.png
21, 22, 23 ebd.
24 www.instagram.com/p/CMQDefcHwnz/ (im Kommentarbereich
26 Thomas Bauer, Kultur der Ambiguität, S. 384.
27 Muḥammad b. Ismāʿīl al-Muqaddam, Iʿlān bi-ḥurma ahl al-ʿilm al-Islām, S. 337.
Das Unterkapitel in diesem Werk erwähnt viele Aussagen der Gelehrten, die mit der Kritik von Autodidakten zusammenhängen. Siehe, S. 335-346.
28 Muslim (4673).
https://shamela.ws/book/1727/6731#p1

Verfasst von:

Navid Chizari

Doktorand in Islamic Studies (Ibn Haldun University, Istanbul)
Gründer von Rooted Thought

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